Palabirnen mit Zukunft
Kulturschutz und wirtschaftlicher Unternehmergeist im Vinschgau
Im Sommer 2015 von Dr. Paul Bertagnolli
Haushoch stehen sie da, die Palabirnbäume in Schluderns. Lukas Tschenett steht auf der gelben Hebebühne mitten im Dorf, nicht weit vom Bahnhof. Es ist 8 Uhr am Morgen, von der Hauptstraße her rauscht der Verkehr, der Himmel ist tiefblau und hinten sieht man die weiße Spitze des Ortlers. Jetzt fehlt nur noch der Vinschger Wind. Lukas, 27 Jahre alt, Weinfachmann und Jungbauer am Tälerhof in Schluderns, pflückt die Palabirnen, die von unten im Blättermeer der mächtigen Obstbäume kaum zu sehen sind. Er lacht herunter. Herunterfallen kann er nicht mehr so leicht. Das war früher anders, erzählt sein Vater Walter: „Ich weiß von mindestens drei Leuten, die beim Palabirnenklauben von der Loan gefallen und gestorben sind.“ Walter Tschenett ist 54, und Bauer am Tälerhof. Die Hebebühne zu leihen sei teuer, aber zumindest nicht so gefährlich wie die alten Sprossen der Loan, die plötzlich brechen und den Tod bedeuten können. Dafür müssen sich Walter und Lukas bei der Ernte beeilen, damit ihnen die Ernte nicht zu teuer kommt: „Wir klauben die nächsten Tage bis zum Einbruch der Dunkelheit!“ Wir spazieren zum Hof zurück: Der Tälerhof schaut aus wie ein kleines schmuckes weißes Einfamilienhaus mit Vorgarten. Stall oder Stadel sind nicht zu sehen, dafür aber ein schöner alter Palabirnbaum.
Von der Türkei in den Vinschgau
Was ist an der Palabirne so Besonderes, dass Herr Tschenett sich die Arbeit antut, eine teure Hebebühne zu mieten und die dreizehn alten Palabirnbäume abzuernten, die auf Schluderns und Umgebung verstreut sind? Walter Tschenett erzählt in seiner ruhigen Art zuerst einmal etwas von der Geschichte dieser alten Frucht, der Luis Stefan Stecher sogar in einem eigenen Palabirn-Gedicht ein Denkmal gesetzt hat und der jährlich im September eigene Palabirntage in Glurns gewidmet sind. Die Palabirne ist aus Asien über die Türkei um 1500 nach Europa gekommen. 1755 wird sie in Schluderns auf der Churburg zum ersten Mal als „Pilli Palli“, 1830 in Kastelbell als „Palabir“ erwähnt. Was dieser geheimnisvolle Name bedeutet, weiß niemand genau. Wahrscheinlich „Birne“, wahrscheinlich ist es ein altes rätisches Wort. Die Palabirne gab es früher nicht nur im Vinschgau, wie man meinen könnte, sie war in ganz Europa verbreitet. „Aber die Bäume sind einfach zu hoch für die Ernte, die Früchte sind nicht haltbar und wenn sie auf den Boden fallen, werden die Wespen zur Plage. Ich vermute, dass dies die Gründe sind, dass die Palabirne in Europa verschwunden ist.“
Süßstoff der Bauern
Warum hat sie sich dann aber gerade im Vinschgau erhalten? Vielleicht ist es so wie mit den romanischen Kirchlein, die auch erhalten wurden, weil die Vinschger zu arm waren, sie zu barockisieren. Die wertvollen Palabirnbäume blieben wohl deshalb stehen, weil die Vinschger einen günstigen Süßstoff brauchten: „Der Palabirnenbaum wuchs meist vor dem Haus, die Früchte wurden sofort verarbeitet zu Mus, Mehl, Dörrobst, Kaffee- und Kakaoersatz, Honig, zum Versüßen von Speisen. Jedenfalls muss das Mehl etwas Kostbares gewesen sein, dass es sogar ins Ötztal geschmuggelt wurde. Das Problem ist, dass es die alten Rezepte großteils nicht mehr gibt.“ Doch Walter Tschenett ist überzeugt von seinem Weg, die Palabirnen nicht einfach nur den Wespen zu lassen, sondern zu verarbeiten für die Menschen von heute. Deshalb fragt er nach bei Bäuerinnen und Hausfrauen, die noch selbst Palabirnen verarbeitet haben. So konnte er aufgrund von mündlichen Aussagen selbst ein Palabirnen-Mehl herstellen und nach dem Rezept der Großmutter ein Palabirnen-Mus.
Wer Palabirnen isst, braucht keinen Arzt
Palabirnen sind nicht nur süß, sondern auch gesund. „Heute noch heißt es: Wenn die Palabirnen reif sind, kann der Arzt in Urlaub gehen!“, erzählt Tschenett und es ist ihm ernst damit, dass diese Früchte, die von vielen nicht mehr geschätzt wurden, eine wahre Medizin sind. Dank ihres hohen Anteils an Ballaststoffen und ihres hohen Fruchtzuckergehalts wirkt die Palabirne auf natürliche Weise reinigend. Sie enthält viel Vitamin C, das sich zu 80% in den äußeren Schichten bis etwa einen Zentimeter unter der Schale anreichert. Außerdem ist sie reich an Mineralien wie Kalium, Phosphat, Calcium und Magnesium. Gerade der hohe Kaliumgehalt (133 mg pro 100 g) ist besonders gesund, denn Kalium reduziert den Bluthochdruck. Ebenso wertvoll sind die enthaltenen Ballaststoffe wie Zellulose, Lignin und Pektine. Diese fördern den bakteriellen Abbau im Dickdarm, wirken dort krebshemmend und vermindern in der Leber die Bildung von Cholesterin. Die Palabirne wurde früher vor allem bei Magenbeschwerden als Medizin eingenommen. „Schon Hildegard von Bingen hat das Birnenmus als Medikament mit abführender Wirkung vorgeschlagen. Da habe ich mir gedacht, ich möchte selbst untersuchen, wie sich die Palabirnen auf die Gesundheit auswirken.“ Tschenett ging ins Altersheim und fragte, ob er in Zusammenarbeit mit dem Arzt ein Palabirn-Projekt starten könnte: Sechzehn Personen, die auf Medikamente mit abführender Wirkung angewiesen waren, nahmen teil und aßen statt der Medikamente regelmäßig das Palabirnenmus. Neun Personen konnten tatsächlich die Medikamente absetzen und dafür der Wirkung der Palabirne vertrauen. „Früher wurde sie bei uns gewärmt, esslöffelweise verabreicht und mit Brombeere, Himbeere, Marillen, Holunder – alles was im Garten gerade da war – gemischt.“
Der Bauer als „Permakulturdesigner“
Der eigene Garten war also Reservoir für Genuss und Gesundheit. Diesen Weg will Tschenett auch heute gehen. „Wir wollen aber nicht nur alte Gerichte nachkochen, sondern auch Neues erfinden“, sagt er. Pflanzen und Tiere auf dem Hof sieht er als Lebensraum, der sich gut entwickelt, wenn man ihn nur lässt und nicht zu viel eingreift. Vor zehn Jahren hat er eine Ausbildung als „Permakulturdesigner“ absolviert und den Weg der Natur beschritten. Tschenett will ihn weitergehen und führt uns zu seinen kleinen Palabirnbäumen hinter dem Haus: „Ich habe die Golden herausgetan und Palabirnbäume gesetzt.“ Die 500 ehemaligen „Pelzerlen“ tragen nun reiche Früchte. Dass viele Leute im Dorf über die Umstellung den Kopf schüttelten, darüber kann Tschenett nur lächeln. Der gelernte Tischler hat die Selbstsicherheit eines kreativen Unternehmers: Als er den Hof von seinem Vater übernommen hatte, war dieser noch ein Viehbetrieb. „Ich habe gleich gesehen, dass ich dabei zu wenig verdiene und vor 30 Jahren auf Gemüse, dann auf Obst umgestellt.“ Aber weil der Hof nur eineinhalb Hektar Eigenfläche hat, war es schwierig, davon zu leben und Tschenett arbeitete als Erlebnispädagoge mit schwer erziehbaren Kindern. Damals schon erkannte er die heilende Kraft der Natur: „Wenn ich mit den Kindern in die Natur bin, wurden sie sofort ruhiger.“ Heute sind für ihn die Palabirnbäume ein Stück Natur, das er schützen will: „Es tut mir leid, wenn ich sehe, wie immer mehr alte Bäume verschwinden, vor allem, wenn gebaut wird.“ Für ihn ist der Palabirnbaum ein Kulturgut, das ihm auch helfen kann, mit dem Hof zu überleben, der heute mit den Pachtflächen zweieinhalb Hektar Grund umfasst: „Wenn wir vom Hof leben wollen, dann müssen wir erfinderisch sein.“ Dass sich Naturschutz, Kulturliebe und wirtschaftliches Denken nicht ausschließen, zeigt sich hier auf dem Tälerhof immer wieder. An den kleinen Bäumen hängen Töpfchen mit Namen dran: „Das sind die Baummieter. 60 Baumpaten mieten einen Baum für ein bis drei Jahre und dürfen ihn dafür ernten.“ Die Baumpaten kommen aus Österreich, der Schweiz, Trient, Mailand und sogar aus Ägypten. „Für viele weggezogene Vinschger sind die Palabirnen ein Stück Heimat, andere wollen einfach dieses Kulturgut unterstützen.“