Die Tiroler Weihnacht
Im Winter 2016 von Waltraud Holzner
Als der Brief aus Amerika kam, war ich, der Maxl, 10 Jahre alt, ein Knabe, der die Erwachsenen oftmals zu der bangen Frage veranlasste, ob aus ihm jemals etwas Nützliches werden könne.
Im Brief wurde angekündigt, Tante Priscilla würde uns, ihre lieben Verwandten, in Südtirol besuchen. Sie freue sich uns kennenzulernen und wolle endlich eine echte Tiroler Weihnacht erleben.
Tante Priscillas Ehemann, ein Bruder meines Großvaters, war vor kurzer Zeit gestorben. Nun bewirkte die Trauer in ihr den vorher nie verspürten Wunsch, die Heimat ihres Mannes aufzusuchen. Es war eine sehnsuchtsvolle Rückwendung zur Vergangenheit ihres geliebten Pepi, die dieser ihr in verklärender Weise geschildert hatte. Oft hatte er begeistert von der ländlichen Weihnachtsidylle erzählt, von den Bräuchen, die in seinem Südtiroler Heimatdorf üblich waren und von der heimeligen Stimmung, die er als Kind erfahren hatte. Die extravagante Priscilla war es gewohnt, zu Weihnachten noble Partys zu arrangieren und den schrillen „American way of Xmas“ zu genießen. Aber nun, so stand es im Brief, wolle sie eine typische Tiroler Weihnacht erleben: bei einer Schlittenfahrt die Rehe am Waldesrand beobachten, in windschiefen, schindelgedeckten Ställen wollige Schafe streicheln, probieren wie Lebkuchen und Zelten schmecken und Omas Weihnachtsbäckerei knabbern. Sie wolle in unserer Stube beim Kachelofen sitzen, an einem aus dem Wald geholten Tannenbaum Wachskerzen mit flackernden Flammen bestaunen und dann zuschauen, wie die Bewohner unseres Dorfes, in raue Umhänge gehüllt und mit Stöcken und Laternen ausgerüstet, durch den Schnee zur mitternächtlichen Christmette stapfen. Und die „Kiechlan“ mit Schwarzbeerkompott, von denen ihr „beloved Pepi“ so geschwärmt hatte, wolle sie nun endlich einmal verkosten.
Es begann ein großes Nachdenken, was dazu beitragen könnte, eine „Tiroler Weihnacht“ zu inszenieren. Tante Priscillas Vorstellungen lagen, außer einer in einer Baumschule käuflich erworbenen Tanne, den Wachskerzen und den süßen Weihnachtsleckereien, jenseits unserer Möglichkeiten. Vielleicht würde es schneien, vielleicht auch nicht. Die Tante würde wohl mit einer Autofahrt in die reizvolle Umgebung unserer Ortschaft vorliebnehmen müssen. Stünden Rehe am Waldrand, wäre das ein wohl seltener Glücksfall. Die Zentralheizung würde den erträumten Kachelofen ersetzen müssen und Mettenbesucher in rauen Kutten würden ganz gewiss nicht vorhanden sein.
Die Frage, was eine alpenländische von einer amerikanischen Weihnacht unterscheide, hatte lange Diskussionen verursacht. Endlich befand die Familie, die Besonderheit liege wohl in der Einfachheit der Gestaltung, ohne plastifizierten Kaufhauskitsch. Aber es war gar nicht so einfach, der sentimentalen Scheinkunst zu entrinnen, weil Santa Claus, vulgo Weihnachtsmann, hatte seit langem auch unser Südtiroler Dorf schon fest in seinen Klauen.
Endlich kam die Erwartete. Sie und ihr Hund. Beide mit puddinggelb gefärbten Locken. Wir waren sprachlos vor Staunen. Der von Natur aus weiße Zwergpudel hörte auf den Namen Elvis. Ich musste mir das Lachen verbeißen und bedauerte den gelb verschandelten Hund.
Es war mir schleierhaft, was mein Großonkel Pepi an dieser lackierten Uralt-Tussi gefunden hatte.
Wenn Tante Priscilla anderes als unser kleines Haus mit dem Mini-Garten erwartet hatte, so ließ sie uns ihre Enttäuschung nicht merken. Sie fand alles „lovely“ und „nice“. Meine Eltern hatten die Wohnung mit Tannenreis geziert, das Haus war blitzblank und erfüllt von Geheimnis und weihnachtlichen Düften. Eigentlich war es ganz so wie jedes Jahr.
Ich schmückte mit Tante Priscilla den Christbaum, eine Beschäftigung, der sie allem Anschein nach das erste Mal nachging. Sie freute sich über jeden Strohstern und als der Baum fertig geschmückt da stand, schüttelte sie mir kumpelhaft die Hand und stellte fest: „ Maxl, das haben wir gut gemacht!“. Ihr amerikanischer Akzent verlieh dem Gesagten eine geradezu interkontinentale Geltung.