O du stille Zeit!
Im Winter 2016 von Dr. Luis Fuchs
O du fröhliche, o du selige … flötet es nun aus den Beschallungsanlagen der Kaufhäuser. Mancher Kunde lässt sich in euphorische Konsumlaune aufputschen, manch anderer ist gegen den Akustik-Kitsch allergisch und sucht das Weite.
Der Dezember weist sich als Monat der „O-Lieder“ aus: O Tannenbaum, O Jubel, O Freud, O freudenreicher Tag.
Ob dieses vorangestellte „O“ nur bei Liedern stehe, so wie bei O du lieber Augustin, wollte ein interessierter Zeitgenosse wissen. Der Buchstabe steht auch Gedichten oder Gebeten voran und drückt Respekt und Ehrfurcht wie auch Zuneigung aus. O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen, ... o dass sie ewig grünen bliebe, die schöne Zeit der jungen Liebe! lässt Schiller im „Lied von der Glocke“ den Jüngling schwärmen. Diese O-Partikel hat weit zurückreichende Wurzeln, denn schon bei den Römern fand sie Verwendung in Wendungen wie O tempora, o mores; mit diesem O Zeiten, o Sitten klagte Cicero in seinen Reden über den Verfall von Anstand und Moral. Mit O sancta simplicitas soll ein uneinsichtiger Philosoph beim 1. Konzil zu Nicäa im Jahre 325 zum Schweigen gebracht worden sein, O heilige Einfalt ist also ein Ausdruck des Erstaunens über Dummheit. Ojemine ist spontaner Ausruf der Bestürzung, er ist eine Verballhornung des lateinischen „O Jesu domine“.
Mit viel Gefühl wird eine Anrede behaftet, wenn man ihr ein „O“ voransetzt. Verdis Gefangenenchor Oh mia patria löst beim Opernpublikum heute wie damals bei der Uraufführung Stürme der Begeisterung aus. Ähnlich patriotischen Enthusiasmus lässt Gottfried Keller in sein Gedicht „An das Vaterland“ einfließen, das mit der rührseligen Anrede beginnt: O mein Heimatland! O mein Vaterland! Viel Wehmut legt Joseph von Eichendorff beim Abschied vom heimatlichen Wald in seine Verse: O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald!
Eugen Roth gibt uns zur Einstimmung aufs Weihnachtsfest eine praktikable O-Empfehlung: