Wir und die anderen
Im Herbst 2020 von Dr. Luis Fuchs
Am 31. August 2015 beteuerte Angela Merkel: „Wir schaffen das!“ Sie war sich damals in keiner Weise bewusst, dass dies ihr bekanntester Satz werden würde. Für diesen einen Satz wird Merkel bis heute von den einen bewundert und von den anderen geschmäht. „Wer sind wir?“, fragten sich viele konservative Deutsche, die mit der Vereinnahmung ins kollektive „Wir“ ganz und gar nicht einverstanden waren.
Das Wörtchen WIR sei ein sehr eigentümliches und besonderes Wort, meint der Stuttgarter Dozent Thomas Gutknecht. Es entspreche keineswegs einer Mehr- oder Vielzahl aus „Ichs“, aus isolierten Einzelnen, sondern stehe für einen Kreis von Menschen, in den die eigene Person eingeschlossen ist. Allerdings vermag das „Wir“ so leicht auszuschließen und sich anderen Gruppierungen gegenüberzustellen: „Wir“ und „die da“, wir Einheimischen und die Fremden, wir Staatsbürger und die Ausländer. Das „Wir“ kann sich bis hin zur ausgrenzenden „Miar san miar“-Mentalität steigern, die dann mit einem „Bisch a Tiroler, bisch a Mensch“ auf die Spitze getrieben wird. Ist man kein Tiroler, wer ist man dann? Verstörend eine derart groteske Frage.
Der Südtiroler Historiker Claus Gatterer zeichnete im Werk „Schöne Welt, böse Leut“ die Geschichte seiner Jugend zur Zeit des Faschismus auf. Eingehend befasste er sich mit der Frage: „Wer und was war gemeint, wenn wir wir sagten?“ Unter dem „Wir“ seien die Leute im Tal gemeint gewesen und im weiteren Sinn alle jene Menschen zwischen Brenner und Salurn, die so waren und dachten wie sie selber, alle Tiroler also. Ein tiefer Graben habe das südtirolische „Wir“ vom „Nicht-Wir“, von „denen dort“, den Italienern, getrennt. „Wir“ seien die Regierten, die Untertanen gewesen; „sie“, „die anderen“ wurden als Vertreter des Staates und der Regierung identifiziert.
„Wir“ gegen „die dort in Rom“ ist heute noch die altbewährte Strategie, auf die Südtiroler Parteien bei den Parlamentswahlen setzen. Allerdings sind Landtagsabgeordnete der Versuchung erlegen, um den 600-Euro-Bonus anzusuchen, den genau die sonst beargwöhnte Zentralregierung für Härtefälle bereitgestellt hatte. Statt sich um das „Wir“, also das Gemeinwohl zu kümmern, haben diese Politiker dem „Ich“ den Vorrang gegeben und sich mit öffentlichen Geldern bereichert.
Ein „Wir“, das anstelle der Ich-, Du- oder Sie-Form eingesetzt wird, hat eine lange Tradition. „Wir, Kaiser von Gottes Gnaden“: Der Plural der Hoheit (Pluralis Majestatis) wurde verwendet, um eine Person als besonders würdig darzustellen. Meist waren es Herrscher, die Macht demonstrierten, indem sie von sich im Plural sprachen. Um Vertrautheit und Nähe zu schaffen, verwenden Ärzte und Pflegepersonal den Plural des Wohlwollens (Pluralis Benevolentiae): „Und jetzt legen wir uns schön ins Bett, dann fühlen wir uns morgen schon wieder besser.“ Der Plural der Bescheidenheit (Pluralis Modestiae) ist uns vielleicht noch vom Schulalltag geläufig, wenn der Lehrer den Unterricht einleitete: „Wo waren wir letzte Woche stehen geblieben?“