Hybris
Im Winter 2011 von Ulrich Ladurner
Die Revolution in Ägypten versetzt viele Menschen bei uns in freudige Erregung, doch vielen macht sie auch Angst. Was ist, wenn Islamisten an die Macht kommen? Was, wenn aus dieser Revolution ein neuer religiöser fundamentalistischer Staat hervorgeht wie 1979 im Iran?
Das ist ein bedrohliches Szenario. Keine Frage. Denn Ägypten ist mit 80 Millionen Einwohnern der größte arabische Staat, er kontrolliert den für die europäische Wirtschaft eminent wichtigen Suezkanal und er hat als einziger arabischer Staat einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen. Ohne diesen Vertrag droht ein neuer großer Krieg in Nahost. Nicht auszudenken, wenn Ägypten in islamistische Hand käme.
Doch das erscheint bei jetziger Lage der Dinge als unwahrscheinlich.
Ägyptens Muslimbrüder sind zwar die am besten organisierte Partei des Landes, doch dürften sie nach Einschätzung von Experten bei Wahlen nicht mehr als zwanzig Prozent erreichen. Außerdem geben sie sich offiziell als gemäßigt. Das ist zwar kein Beweis für ihre Harmlosigkeit, doch es zeigt, dass die Muslimbrüder sehr wohl mit anderen politischen Gruppen konkurrieren müssen. Und in diesem Konkurrenzkampf nutzt es ihnen offensichtlich nicht viel, wenn sie sich radikal geben. Die Demonstrationen in Kairo bestätigen das heterogene Bild. Was wir dort sehen, ist ein buntes Volk. Die mehrere Hunderttausend Demonstrierenden kommen aus allen Schichten und allen Altersgruppen.
Sie alle als Islamisten zu bezeichnen, wäre hanebüchen.
Doch selbst, wenn wir nach dem Fall des Autokraten Husni Mubarak mit einem Erstarken der Islamisten zu rechnen hätten, was könnte der Westen dagegen tun? Nicht viel! Die Revolution, die dort im Gange ist, kann von außen nicht gesteuert werden. Maximal können die USA und Europa ein wenig Einfluss nehmen. Doch mehr auch nicht. Man mag das mit Bitterkeit vermerken. Doch es ist eine Tatsache, die wir hinnehmen müssen — und sie hat heilsame Wirkungen.
Der Westen nämlich krankte besonders in den letzten Jahren an Hybris.
Der Krieg im Irak und der Krieg in Afghanistan sind beide in unterschiedlichem Maße das Ergebnis von Überheblichkeit. Wie auch immer sie ausgehen mag, die Revolution in Ägypten führt uns vor, dass diese Zeit vorbei ist. Der Westen kann die Geschicke der Welt nicht mehr bestimmen.