Die Zweitsprache
Eine Frage der Motivation?
Im Sommer 2017 von Philipp Rossi
Die von der EURAC durchgeführte KOLIPSI-Studie hat gezeigt, dass die Zweitsprachenkenntnisse der Südtiroler Schüler dramatisch schlecht sind und sich in den letzten Jahren sogar verschlechtert haben. Der Meraner Stadtanzeiger hat sich mit Prof. Marco Mariani unterhalten, der die Dynamiken des Zweitsprachenunterrichts genauestens kennt. Prof. Mariani hat mehrere Jahre lang Italienisch als Zweitsprache unterrichtet, war Direktor des italienischsprachigen humanistischen Gymnasiums Carducci in Bozen und schließlich bis zu seiner Pensionierung Inspektor für Italienisch als Zweitsprache am Deutschen Schulamt.
Meraner Stadtanzeiger: Herr Professor Mariani, ist die Schule an den schlechten Zweitsprachenkenntnissen der Schüler schuld?
Marco Mariani: Immer wenn die Schüler bei den Studien schlecht abschneiden, gibt man der Schule die Schuld. Allerdings kann ich Ihnen versichern, dass die Schule und die Lehrpersonen alles tun, was in deren Möglichkeit liegt, um die Schüler zum Erlernen der Zweitsprache zu animieren. An der Unterrichtsmethode ist es mit Sicherheit nicht gescheitert.
MS: Woran dann?
Marco Mariani: Um eine Sprache zu lernen, ist die Motivation ausschlaggebend; beim Großteil der Schüler mangelt es an der sog. „intrinsischen Motivation“, der innerlichen Bereitschaft, die Zweitsprache zu lernen, um sie dann auch in einem alltäglichen Kontext zu gebrauchen. Stattdessen herrscht bei den meisten Schülern eine sog. „instrumentelle Motivation“ vor, die Sprache ist bloß ein Mittel, um einen Zweck – eine positive Schulnote oder die bestandene Zweisprachigkeitsprüfung – zu erreichen.
MS: Warum fehlt die notwendige Bereitschaft?
Marco Mariani: Wie in den allermeisten mehrsprachigen Gebieten, ist es wesentlich schwieriger, die Sprache der anderen Volksgruppe als eine Fremdsprache zu lernen. Und Südtirol ist keine Ausnahme. Es liegt folglich an der vorherrschenden Mentalität in unserem Land. Seit Jahrzehnten dominiert in Südtirol die Kultur der ethnischen Trennung, die in den Anschauungen hochrangiger Politiker ihre Bestätigung findet. Zudem ist der Zweitsprachenunterricht einer ständigen Kritik ausgesetzt. In einer solchen Umgebung fällt es den Schülern schwer, die Zweitsprache mit Begeisterung zu lernen.
MS: Glauben Sie nicht, dass in der Oberschule zu viel Wert auf die Literatur anstelle der Sprache gelegt wird?
Marco Mariani: Seit Jahren wird die Abschaffung des Literaturunterrichts in der Zweitsprache gefordert mit der Begründung, die Schüler sollten lieber die Sprache ordentlich lernen, anstatt sich mit Dante oder Goethe herumzuplagen. Es ist aber nicht möglich, eine Sprache zu unterrichten, ohne die Inhalte miteinzubeziehen, auf denen die Sprache aufgebaut ist. Wenn man der Sprache auch einen hohen qualitativen Stellenwert verleihen will, ist es unausweichlich, kulturell hochstehende Themen zu behandeln. Und gerade die Literatur schafft es, Sprache und Kultur miteinander zu verbinden, und nicht nur wertvolle Sprach-, sondern auch Kulturkenntnisse zu vermitteln.
MS: Einige Schulen haben in den vergangenen Jahren sogenannte „CLIL“-Projekte gestartet, bei denen die Zweit- oder Fremdsprache nicht als Unterrichtsfach, sondern als Mittel, um Fachinhalte zu vermitteln, gelehrt wird. Dennoch sind die Kenntnisse der Schüler gesunken. Ist es Zeit, die CLIL-Projekte zu überdenken?
Marco Mariani: Das CLIL-Projekt hat in den Südtiroler Schulen erst vor wenigen Jahren Einzug gehalten. Deshalb ist es noch etwas früh, um endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Zudem muss genau geprüft werden, ob die drei Voraussetzungen gegeben sind, damit man von einem „echten“ CLIL sprechen kann. Erstens muss die Lehrkraft über exzellente Kenntnisse in der Unterrichtssprache verfügen, d.h. diese auf Muttersprachenniveau beherrschen. Zweitens muss sie auf fundierte Fachkenntnisse zählen können. Daneben sind auch weitreichende Kenntnisse der Sprachlehre, d.h. der Art und Weise, auf die eine Fremdsprache gelehrt werden muss, erforderlich. Freilich müssen auch die Schüler – insbesondere wenn man mit der CLIL-Didaktik erst in der Oberschule beginnt – zumindest über Grundkenntnisse der Sprache verfügen, damit sie dem Unterricht auch folgen können. Effizienter wäre es, mit CLIL-Projekten schon in den Grundschulen in angemessenem Maße anzufangen.
MS: Wenn die Bevölkerung nicht die Sprache der jeweils anderen Volksgruppe kennt, entstehen zwei Parallelgesellschaften, die nebeneinander, aber nicht miteinander leben. Hatte der ehemalige LR Zelger Recht, als er meinte, dass wir uns besser verstehen würden, wenn wir uns trennen?
Marco Mariani: Jede Aussage muss in ihrem historischen Kontext gelesen werden. Anton Zelger äußerte sich in einer Zeit, in der sich die deutschsprachige Schule nach der Verabschiedung des Zweiten Autonomiestatuts 1972 in einer Aufbauphase befand. Damals war die Südtiroler Gesellschaft noch eine andere. Heute gibt es hingegen zahlreiche Familien und Situationen, in der die klassische Dreiteilung der Volksgruppen durchbrochen wird. Und diesen Umständen muss auch die Politik Rechnung tragen.
MS: Heutzutage kommen die Kinder bereits im Vorschulalter mit der Zweitsprache in Kontakt. Wie kann es aber sein, dass dreizehn Schuljahre nicht ausreichen, um sich einigermaßen akzeptable Zweitsprachenkenntnisse anzueignen?
Marco Mariani: Das Problem liegt nicht in der Stundenanzahl, die locker ausreichen würden, um ein exzellentes Deutsch- bzw. Italienischniveau zu erreichen. Das Hindernis bilden die zahlreichen gedanklichen Störfaktoren, die der Zweitsprache einen politischen Stellenwert aufzwingen. Paradoxerweise ist es fast einfacher, eine Fremdsprache, z.B. Englisch, zu lernen, da diese nicht mit ideologischen Barrieren behaftet ist.
MS: Eine Schattenseite der Autonomie?
Marco Mariani: Dank der Autonomie, die uns allen zweifellos großen Reichtum gebracht hat, können wir jederzeit unsere Muttersprache verwenden, ohne auf die Zweitsprache zurückgreifen zu müssen. Dies hat zur Bildung zweier paralleler Welten geführt, die im selben Land nebeneinander bestehen.