Wandern
Labsal für Herz und Seele
Im Sommer 2020 von Eva Pföstl
Schon als Margareth aus dem Schuldienst ausschied, stand für sie fest, dass sie in ihrem künftigen Rentnerdasein nicht zu Hause sitzen und Daumen drehen würde. Und weil das Schreiben und die Sprache schon immer ihre Steckenpferde gewesen waren, ergriff sie vor fast elf Jahren die Gelegenheit beim Schopf, als sich die Möglichkeit bot, gemeinsam mit Helmuth Tschigg und Daniel Pichler den Meraner Stadtanzeiger ins Leben zu rufen. Seitdem liefert sie unter anderem alle zwei Wochen einen Wandervorschlag samt Fotos, der die Leser auf Wanderwegen in unterschiedlichen Höhenlagen in alle möglichen Gegenden unseres Landes führt.
MS: Hast du eine Ahnung, wie weit du in den vergangenen 11 Jahren gegangen bist?
M. Bernard: Nein, da kann ich keine Zahl benennen. Aber es sind schon ein paar Kilometer zusammengekommen.
MS: Was fasziniert dich am Wandern? Warum bist du eine so begeisterte Wanderin?
M. Bernard: Wandern ist für mich in erster Linie Labsal für Herz und Seele. Aber es gibt noch einige Pluspunkte obendrein. Wir leben in einer einmaligen Gegend und das Wandern lässt uns all diese außergewöhnlichen Schönheiten immer wieder aufs Neue erfahren und genießen. Und es macht auf eine gewisse Art auch süchtig. Manchmal treibt es mich hinaus, auch wenn mein Gewissen Gründe anführt, warum ich eigentlich keine Zeit hätte. Als Lohn kommt man heim und hat ganz vergessen, was da vorher so wichtig gewesen wäre und so dringend hätte erledigt werden müssen. Zudem ist es immer wieder ein besonderes Gefühl, wenn man einen Aufstieg geschafft hat. Das ist eine Art von Genugtuung und auch von Sieg über sich selbst, über seine Bequemlichkeit, vielleicht sogar über den viel zitierten inneren Schweinehund. Das Oben-Ankommen schafft ein Glück, das man in der Stadt nicht findet.
MS: Du lieferst auch die Fotos zu den Wandervorschlägen. Hast du immer schon fotografiert?
M. Bernard: Nein, der Fotograf mit dem erprobten Blick für besondere Motive war mein Mann. Erst seitdem ich die Wandervorschläge liefere, fotografiere ich auch, mittlerweile mit Leidenschaft, wenn auch nur nach Bauchgefühl.
MS: Worin besteht der Unterschied zwischen Wandern und Bergwandern?
M. Bernard: Nun, wandern kann eigentlich jeder, der einen Fuß vor den anderen stellen kann. Für das Bergwandern, also um länger und auf etwas anspruchsvolleren Wegen – mit Steigungen, Geröll und ein bisschen Gefahr – unterwegs zu sein, braucht es Ausdauer, etwas Kondition und manchmal auch Trittsicherheit und Schwindelfreiheit.
MS: Auf welcher Art von Wegen wanderst du am liebsten?
M. Bernard: Am liebsten wandere ich auf alten, urtümlichen Bergwegen, die vor vielen Jahrzehnten von fleißigen Männern angelegt bzw. manchmal sogar aus dem Felsen gehauen wurden. Ich mag Fußwege, die ziemlich direkt in die Höhe führen. Etwas langweilig finde ich das Wandern auf Forststraßen, aber sie ermöglichen natürlich auch weniger geübten und ausdauernden Naturliebhabern sowie den Familien mit Kindern das Bewegen in den Bergen.
MS: Wie antwortet man auf die ewige Kinderfrage „Ist es noch weit?“
M. Bernard: Da ist es durchaus notwendig, ein bisschen zu lügen, dann bekommt man auch die Bergmuffel ans Ziel.
MS: Was macht einen guten Wanderer aus?
M. Bernard: Nun, er weiß, wie man die Füße voreinander setzt. Er hat etwas zu essen dabei. Er überschätzt sich selbst und seine Fähigkeiten nicht. Er beobachtet das Wetter. Er plant mit Hausverstand. Der ganze Rest hat nichts mehr mit gut oder schlecht zu tun.
MS: Gibt es verschiedene Wanderstile?
M. Bernard: Jeder Mensch hat seine Art, sich zu bewegen, so unterschiedlich wie ein Fingerabdruck. Die Unterschiede reichen von elegant über tänzelnd und schlurfend bis plump.
MS: Welche Körperteile werden beim Wandern am meisten belastet?
M. Bernard: Ich denke, die Beine und die Füße. Das merkt man, wenn man zwischendurch Wanderstöcke benutzt, denn damit nimmt man so viel Druck weg, dass man in den Armen Muskelkater hat. Bei einigen sind es vielleicht auch die Stimmbänder, wenn man mitbekommt, wie viele beim Wandern reden und reden und reden.
MS: Was sind die häufigsten Fehler beim Wandern?
M. Bernard: Einmal, wenn man zu schnell startet und dann, wenn man seine persönliche Geschwindigkeit nicht findet und einhält. Und wenn man sich überschätzt.
MS: Wie ist der richtige Umgang mit dem Wetterbericht?
M. Bernard: Die Meteorologie ist ziemlich sensationell. Man kann mit einer App heute schon im Voraus sehen, wo genau es regnen wird. Aber es geht auch ohne. Wenn man den Wetterbericht hört und dann beim Wandern auch mal den Blick zum Himmel richtet, kann man mit der Erfahrung von Jahren schon abschätzen, ob man trocken oder durchnässt nach Hause kommen wird. Die Gefahr bei einem Gewitter sollte man aber auf keinen Fall unterschätzen. Da heißt es, früh genug umkehren oder lange genug einkehren (lacht).
MS: Was darf im Rucksack nicht fehlen?
M. Bernard: In den Rucksack gehören für mich Kleider für alle Eventualitäten, genug Wasser, ein Taschenmesser, Wanderkarte, Trockenobst oder ähnliches, Sonnen- und Regenschutz, Schreibzeug, ein Erste-Hilfe-Set, das Handy mit geladenem Akku – für mich aber auf lautlos gestellt, Bargeld, Ausweis, eine Stirnlampe und im Winter Schuhspikes.
MS: Wandern Frauen anders als Männer?
M. Bernard: Sie sind stilvoller angezogen als Männer. Und sie reden meistens mehr. Für Frauen ist Wandern ein sozialer Akt.
MS: Entgegenkommende Wanderer: Wer hat Vorrang?
M. Bernard: Das hängt von der Situation ab, aber richtig eng wird es beim Wandern selten. Ich finde, Rücksicht und Höflichkeit sollten auch am Berg ihre Existenzberechtigung haben. Ich schaue entgegenkommenden Wanderern gerne ins Gesicht und grüße sie auch, wenn mir nicht gerade ganze Heerscharen von Touristen entgegenkommen.
MS: Darf man umkehren?
M. Bernard: Das ist ein Zeichen von Schwäche und daher super! Wer umkehrt, hat die Größe, einzusehen, dass es nicht mehr geht.
MS: „Gehen ist die beste Medizin“ soll Hippokrates gesagt haben. Wie siehst du das?
M. Bernard: Es ist sehr gesund. Und diagnostisch dazu. Das Gehen bringt alle Probleme, die du hast, ans Licht, sowohl die schlechte Kondition als auch ein schwaches Rückgrat oder die in die Jahre gekommenen Gelenke, ja sogar zwischenmenschliche Krisen.
MS: Wie beeinflusst Wandern die Psyche?
M. Bernard: Äußerst positiv. Auch wenn am Morgen innen alles grau in grau erscheint, so erstrahlt abends nach einer Wanderung alles in frischer, bunter Farbe.
MS: Wie schaut es mit unseren Wanderwegen aus?
M. Bernard: Unsere Wanderwege sind immer in einem Top-Zustand. Dafür gebührt den Wegwarten des Alpenvereins ein ganz dickes Lob. Und die Beschilderung ist außergewöhnlich gut – im Vergleich zu anderen Ländern; manchmal gleicht unser Wald fast einem Schilderwald. Bei uns muss man die Augen im Rucksack haben, wenn man eine Abzweigung übersieht.
MS: Wie viele Wanderwege gibt es in Südtirol?
M. Bernard: Ich denke, man müsste gleich mehrere Leben haben, um einmal alle Wege und Steiglein abgegangen zu sein.
MS: Stimmen die Zeiten auf den Wegweisern?
M. Bernard: Meistens schon, aber es gibt große Unterschiede. Manche Zeitangaben sind kaum einzuhalten, aber natürlich sind das immer Richtzeiten und alles hängt vom eigenen Schritttempo ab. Lustig finde ich es, wenn sich die Zeitangabe auf den Hinweisschildern nicht ändert, auch wenn man dem Ziel immer näher kommt.
MS: Darf man beim Wandern abkürzen?
M. Bernard: Ja, aber ich bleibe lieber auf den markierten Wegen. Im Laufe meines Wanderlebens und vor allem in jüngeren Jahren habe ich mehrmals die Erfahrung gemacht, dass man sonst nicht immer dort hinkommt, wo man hin möchte.
MS: Wie hat das Smartphone das Wandern verändert?
M. Bernard: Die Technik des Kartenlesens verschwindet langsam. Bei uns sind die Wege in der Regel so gut gekennzeichnet, dass man zur Orientierung nicht unbedingt ein Smartphone braucht. Für das Aufzeichnen des Höhenunterschiedes, der Streckenlänge, der Bewegungsdauer und der Schrittanzahl ist es ein Spielzeug für „große Kinder“. Im Notfall kann es aber Leben retten.
MS: Verlaufen, verzweifelt, verloren – was hilft?
M. Bernard: Erstmal sollte man einen kühlen Kopf bewahren. Und bevor man als unerfahrener Wanderer in fremden Gebieten zum Pfadfinder mutiert, ist es ratsam, Hilfe zu rufen. Man gerät in den Bergen schnell in unwegsames Gelände. Da ist es wichtig, nicht den Helden zu spielen. Wenn ich es – eher selten, aber doch ab und zu – mit der Angst zu tun bekomme, weil ich allein unterwegs bin und es ein wenig gefährlich ist, dann schicke ich schon mal ein Stoßgebet zum Himmel und versuche, ruhig zu bleiben und mich ganz auf den Weg zu konzentrieren.
MS: Wandern boomt, die Innovationen überschlagen sich, der Umsatz explodiert. Was ist das Absurdeste, das du je beim Wandern gesehen hast?
M. Bernard: Ach, da gibt es allerhand Skurriles zu beobachten. Vom Wanderer mit einer Ausrüstung, mit der man locker an einer Expedition teilnehmen könnte, über ganz bunt und hauteng gekleidete, geschminkte und mit Ketten und Ringen behangene Wanderdamen reicht das Angebot bis hin zu jenen Bergeroberern, die ständig über eine „Trinkleitung“ Flüssigkeit aus dem Rucksack saugen.
MS: Es heißt, häufig sind auch schlecht ausgerüstete Wanderer unterwegs. Kannst du diese Aussage bestätigen?
M. Bernard: O ja, das kann man immer wieder beobachten. Ich bin vor Jahren in Osttirol auf einem eher schwierigen und ausgesetzten Höhenwanderweg einer Touristenfamilie mit drei kleineren Kindern begegnet, die mit einfachen Sandalen an den Füßen und ohne warme Kleidung und Regenschutz unterwegs waren, sich aber nicht davon abhalten ließen, ihren Weg fortzusetzen, obwohl dicke Regenwolken aufzogen. Wir haben sie dann eine Weile mit dem Fernglas beobachtet, um eventuell Hilfe anzufordern. Zum Glück hatten sie den schwierigsten Teil des Weges geschafft, bevor wir sie dann aus den Augen verloren.
MS: Aufstieg ist zugleich Abstieg in innere Tiefen. Ist Wandern auch eine spirituelle Erfahrung?
M. Bernard: Es gibt durchaus Momente, in denen mich besondere Orte oder Ausblicke sehr anrühren und mir fast die Tränen kommen. Auch tiefe Augenblicke des Glücks habe ich in den Bergen schon öfters erlebt. Ich kehre auch gerne in ein Kirchlein ein, da danke ich dann für einen schönen Tag, eine beglückende Wanderung oder auch für den Schutz, den man am Berg immer braucht.
MS: Welches ist deine Lieblingswanderung?
M. Bernard: Ich liebe die Dolomiten, vielleicht auch, weil ich dort aufgewachsen bin. Für mich ist eine Wanderung bei den Drei Zinnen oder in der Gegend von Schlern und Rosengarten immer wieder ein besonderes Erlebnis. Leider sind diese Zonen oft überlaufen. Ich mag es nämlich immer wieder mal, allein durch die Welt zu streifen. Dabei sind alle Sinne auf das ausgerichtet, was rundum passiert bzw. zu sehen und zu hören ist. Und das ist in den allermeisten Fällen sehr sehens- und hörenswert.