Die Galeristin (2)
Ein Meran-Krimi von Siegfried Schneider
Im Sommer 2010 von Siegfried Schneider
Donnerstag, 28. Jänner
Marga Kofler betrat gegen 7.30 Uhr die Galerie. Der Ablauf war jeden Morgen derselbe. Fast ein Ritual. Sie hängte ihren Mantel auf, ging in den Abstellraum, band sich die Arbeitsschürze um und holte Staubsauger und Putzzeug aus dem Schrank. Dann setzte sie sich an den kleinen Verkaufstisch in der Nähe des Fensters, breitete die Zeitung aus, die morgens immer vor der Tür lag, zündete sich eine Zigarette an und las die Schlagzeilen des Tages. Erst jetzt schoss es ihr durch den Kopf, dass sie hereingekommen war, ohne das Sicherheitsschloss aufzusperren. Und warum stand der Wagen von Nicole Angerer, ihrer Chefin, um diese Zeit vor dem Haus. Die plötzliche Unruhe, die sie erfasst hatte, zwang sie hoch. Irgendwas war anders als sonst. Sie schaute sich um. Die Tür zum Büro, die normalerweise offen stand, war zu. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter, öffnete die Tür einen Spalt und erstarrte. „Oh, Gott!“ Nicole Angerer lag mit weit aufgerissenen Augen neben ihrem Schreibtisch, den Mantel halb über die Schulter gezogen und um den Hals einen festgezogenen Schal. Die Wunde auf ihrer Stirn und das eingetrocknete Blut – Marga Kofler konnte gar nicht hinsehen. Sie taumelte, wie von einem Schlag getroffen, zurück, fingerte das Handy aus ihrer Manteltasche und wählte mit zittrigen Händen die Nummer der Polizei.
Die MeBo hatte den ersten Berufsverkehr schon hinter sich. Lukas Tanner, auf dem Rückweg vom
Ritten, wo die Familie gestern den 60. Geburtstag seiner Mutter gefeiert hatte, war gut drauf. Vor ihm die schneebedeckten Dreitausender der Texelgruppe, linkerhand der Penegal, die Laugenspitze, das Vigiljoch, alle weiß angepudert, und darüber ein stahlblauer Himmel ohne ein einziges Wölkchen. Am liebsten hätte er die ganze Schönheit dieses Wintermorgens mit ins Büro genommen. Den Haag und seine fünf Jahre bei Europol waren weit weg. Im letzten September war er als Chefinspektor zurückgekommen und hatte die Leitung der Meraner Kriminalpolizei übernommen. Vielleicht, mutmaßte er, musste man erst eine Weile fort gewesen sein, um dies alles hier, die Berge, den Himmel, die Geborgenheit, bewusster erleben und genießen zu können. Die ersten Monate im Kommissariat am Kornplatz waren gut gelaufen. Das Team war okay, Reisinger, Furlan und die anderen; alles gute Leute, die ihm den Neuanfang leicht gemacht hatten. Er hatte alte Bekanntschaften wieder aufgefrischt, wie die zu dem jungen Priester, den er von der Uni kannte, und dessen Bruder, ein Immobilienmakler, ihm dieses traumhafte Apartment im alten Steinachviertel vermittelt hatte. Und er war Giovanni Terranostra wieder begegnet, der inzwischen Maresciallo bei den Carabinieri in Meran war. Geradezu nahtlos hatten sie ihre alten Streitereien wieder aufgenommen.
Dass er sich ab und zu mit Helene, der Ex-Frau von Giovanni, traf, hätte das Fass zum Überlaufen gebracht, wenn Giovanni davon gewusst hätte.
Der Anruf von Reisinger erreichte ihn auf der Höhe von Gargazon. „Wo steckst du?“
Lukas Tanner mochte den 'Alten', der zwei Jahre vor seiner Pensionierung stand, wegen seiner Scharfsinnigkeit, seiner Ironie und seiner uneingeschränkten Loyalität. Ein Vater-Sohn-Verhältnis, wie es besser nicht sein konnte.
„Im Auto. Auf der MeBo.“ „Du kommst weit rum“, spottete Reisinger. „Hör zu. Falls du es heute noch bis Meran schaffst... – Wir haben einen Mord.“
Reisinger gab ihm den Namen des Opfers und die Adresse der Galerie durch. „Also gib' Gas. Furlan und die Spurensicherung sind schon da.“ „Und die Carabinieri?“ wollte Tanner wissen. „Man muss heutzutage mit allem rechnen“, stichelte Reisinger, der um die angespannte Beziehung zwischen Tanner und Terranostra wusste. „Dein Freund, der Maresciallo, hat die Frau angeblich gekannt, sagt Furlan.“
Giovanni Terranostra und Lukas Tanner. Eine unendliche Geschichte. Sie hatten sich schon als Schulbuben gestritten und wegen jeder Lappalie die Nasen blutig geschlagen. Und jetzt hatte man sie, unfreiwillig, vor denselben Karren gespannt. Tanner erinnerte sich daran, was Reno Martell, der engagierte Staatsanwalt aus Bozen, vor einigen Wochen gesagt hat, als es um die Aushebung des albanischen Drogenrings ging.
„Ich erwarte, dass die besten Leute, egal ob in Uniform oder Zivil, bei dieser Aktion Hand in Hand arbeiten. Also vergessen Sie Ihre persönlichen Empfindlichkeiten.“ Es war klar, dass er Giovanni und ihn damit gemeint hatte. Und Martells Erwartungen waren nicht enttäuscht worden. Carabinieri und Staatspolizei hatten die organisierten Drogenhändler gemeinsam zur Strecke gebracht.
Ein spektakulärer Erfolg.
'Men in Black', dachte Lukas Tanner, als er bei der Galerie eintraf. Zwei Männer in Schwarz trugen einen Zinksarg aus dem Haus und schoben ihn in den Leichenwagen. Er stellte seinen 65er-Touring Spider ab, schaute sich um und entdeckte Gianni Furlan, der neben einer mannshohen Holzskulptur stand und telefonierte. Furlan beendete das Telefonat und kam auf Tanner zu.
„Ich hab' den Ehemann erreicht. Er ist unterwegs.“ „Langsam, langsam. Erst mal guten Morgen.“ „Buon giorno.“ Tanner lachte. „Von mir aus auch, buon giorno. Hört sich genauso gut an.“
Sie sahen dem Leichenwagen nach, der vom Gelände fuhr und auf die Straße einbog. „Also erzähl'. - Wenn's geht, der Reihe nach.“ „Nicole Angerer“, begann Furlan, während sie auf die Tür zusteuerten, „gebürtige Französin, 37 Jahre alt. Ihr gehört die Galerie. Sie ist mit einem Schal erwürgt worden. Der Arzt sagt, gestern Abend, zwischen 19 und 21 Uhr.“ „Ziemlich viel Luft“, warf Tanner ein. Furlan nickte. „Die Putzfrau hat sie heute Morgen im Büro gefunden. Kein Raubmord; wir haben ihre Handtasche mit sämtlichen Papieren, Kreditkarten, etc. und 560 Euro Bargeld.“ Furlan begleitete Tanner bis zur Tür. „Den Rest wird dir der Maresciallo erzählen. Er ist drinnen.“ „Wahrscheinlich hat er den Mörder längst“, lachte Tanner und ging hinein. Im Verkaufsraum waren zwei junge Brigadieri dabei, den Bestand der Gemälde an Hand einer Preisliste zu überprüfen, und ein Mann von der Spurensicherung untersuchte einen Alu-Koffer auf Fingerabdrücke.
Tanner fand Terranostra im Büro, das inzwischen von den Kriminaltechnikern freigegeben war. „Ausgeschlafen?“ Lukas Tanner ignorierte die Frage und das süffisante Grinsen in Giovannis Gesicht. „Furlan hat mit dem Ehemann gesprochen. Er ist auf dem Weg.“ „Benissimo.“ Terranostra schloss den Aktenordner, den er in der Hand hatte, und stellte ihn in den Schrank zurück. „Madame hatte außerdem einen Geschäftspartner. Stefan Gaiser. Schon mal gehört?“ Tanner verneinte. Sein Blick fiel auf die Kreidestriche und Markierungstäfelchen auf dem Teppichboden. „Da hast du was verpasst.“ Terranostra zupfte einen Faden von seiner Uniform. „Ich kann dir ja mal beschreiben, wie sie da lag. Bluse und BH zerrissen, den Rock bis zur Hüfte hochgeschoben und das Höschen an den Fußknöcheln.“ Es schien ihm eine Lust zu sein, die Geschichte in allen Einzelheiten vor Tanner auszubreiten. Hinter Terranostra kam der Arzt aus dem Waschraum, trocknete sich die Hände mit einem Taschentuch ab und begann, seine Notizen und medizinischen Utensilien einzupacken.
„Ist sie vergewaltigt worden?“ wollte Tanner wissen. Der Arzt fühlte sich angesprochen. „Auf den ersten Blick sieht es so aus. Aber warten wir mal die Obduktion ab.“ Er nahm seinen Koffer und verabschiedete sich. In der Tür blieb er noch einmal stehen. „Achten Sie bei Ihren Ermittlungen auf Kratzspuren. Die Frau hat sich gewehrt. Ich habe Hautpartikel und Blut unter ihren Fingernägeln gefunden.“
Terranostra ging ans Telefon und bediente den Anrufbeantworter. „Hör dir das mal an.“ Eine männliche Stimme war zu hören, ungeduldig, beinahe zornig. 'Nicole, wo bleibst du denn? Es ist schon nach 8. - Melde dich'. „Schweizer Dialekt“, stellte Tanner fest. „Wer ist das?“ Terranostra zuckte mit den Schultern. „Bin ich Hellseher?“ Er ging zu dem Spiegel, der neben der Tür hing, setzte seine Mütze auf und richtete die Krawatte. „Kommst du? Wir haben noch viel Arbeit.“
„Hast du sie identifiziert?“ Terranostra ließ die Türklinke, die er schon in der Hand hatte, wieder los. „Wie kommst du denn da drauf?“ Tanner versuchte abzuschätzen, wie Terranostra reagieren würde. „Ich hab' gehört, dass du die Frau gekannt hast.“ „So? Und von wem?“ „Das ist doch egal. Hast du sie gekannt oder nicht?“
„Ich will dir mal was sagen, Lukas Klugscheißer... .“ Er winkte ab. „Ach was.. . Vai al diavolo... Scher' dich doch zum Teufel.“ Er lief hinaus, durch den Verkaufsraum, an Furlan vorbei, der gerade die Galerie betrat, und knallte wütend die Ladentür hinter sich zu.
Furlan grinste. „Mein lieber Mann. Das kann ja heiter werden.“
Der erste Zorn war bereits verraucht, als Gernot Angerer, der Ehemann der Toten, kurz danach in der Galerie auftauchte. Terranostra überließ Tanner die Befragung. Der Mann schien relativ gefasst. Seine Antworten waren kurz und emotionslos. Sie erfuhren, dass Nicole Angerer ihn vor einem halben Jahr verlassen hatte, und dass Gaiser nicht nur ihr Partner in der Galerie, sondern auch in ihrem Bett war. “Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?“ Angerer überlegte nicht lange. „Gestern Mittag. Sie kam in mein Büro und wollte...“ Er stockte. „Sie hat mir gesagt, dass die Geschichte mit Gaiser zu Ende ist.“ „Wollte sie zu Ihnen zurückkehren?“ Angerer räusperte sich und lockerte seine Krawatte. „Ich glaube schon. Sie hing sehr an den Buben...“ „Wer hat sich um die Kinder gekümmert, nachdem Ihre Frau sie verlassen hatte?“ fragte Tanner. Angerer war auf der Hut. „Meine Schwester. Und das wird sie auch weiterhin tun. Sie hat sich deshalb für ein halbes Jahr beurlauben lassen.“ Tanner musste unwillkürlich schmunzeln. „Keine Sorge, wir sind nicht vom Sozialamt.“