Die Galeristin (3)
Ein Meran-Krimi von Siegfried Schneider
Im Sommer 2010 von Siegfried Schneider
Freitag, 29. Jänner
Terranostra war dafür, Palm zur Fahndung auszuschreiben. Tanner war dagegen. „Es liegt nichts gegen ihn vor. Seinen Hotelaufenthalt abzubrechen, ist nicht strafbar.“ „Stell dich nicht dumm“, sagte Terranostra. „Palm ist ein wichtiger Zeuge.“ Tanner wiegelte ab. „Ich hab' Reisinger gesagt, er soll Kontakt mit den Schweizer Kollegen aufnehmen. Vielleicht hat der Mann Heimweh gehabt und ist längst wieder in Basel.“ Doch Tanner sollte sich irren.
Sie waren auf dem Weg zu Gernot Angerer in die Katzensteinstraße. Tanner fuhr, Terranostra saß neben ihm und faltete die Zeitung zusammen, in der groß über den Mord berichtet wurde. „Die Hälfte stimmt, die andere Hälfte wird spekuliert“, sagte Tanner. Terranostra schwieg. Er hing seinen eigenen Gedanken nach. „Jedenfalls ist es kein Sexualmord, wie sie schreiben“, fuhr Tanner fort. Er bog von der Cavourstraße in den Winkelweg ein. „Hast du den Obduktionsbericht gelesen? Nicole Angerer ist nicht vergewaltigt worden. Da hat jemand ganz bewusst eine falsche Spur gelegt.“ Terranostra antwortete nicht. „He, Maresciallo! Bist du noch an Bord? Anscheinend interessiert dich das nicht.“
„Du hast mich gefragt, ob ich die Frau gekannt habe.“ „Ja. Und du bist ausgerastet.“ „Ich hab' sie gekannt.“ Und dann erzählte Terranostra, dass er Nicole Angerer vor einem Jahr bei einer Geburtstagsfeier auf Schloss Labers kennengelernt hat, dass sie miteinander getanzt und geflirtet haben und später im nächtlichen Garten auf einer Hollywoodschaukel gelandet waren. „Wir waren beide angetrunken. Ich wollte. Sie wollte. Dann wollte sie wieder nicht. Am Ende ist nichts passiert.“
„Du wirst alt“, spottete Tanner. Terranostra blieb ernst. „Du erinnerst dich an den Klimakoffer in der Galerie.“ Tanner nickte. „Die braucht man, um wertvolle Kunstgegenstände zu transportieren.“
„Vorgestern Nachmittag“, fuhr Terranostra fort, „wenige Stunden vor ihrem Tod, hab' ich Nicole Angerer in der Bank getroffen. Sie hatte diesen Koffer dabei. Ich habe gesehen, wie sie ihn in den Kofferraum ihres Wagens gelegt hat. Aber als wir ihn gefunden haben, war er leer. – Der Täter hat sie umgebracht, es wie einen Sexualmord aussehen lassen und dann das Bild aus dem Koffer gestohlen.“
„Wenn der Mörder und der Dieb ein und dieselbe Person waren."“
Terranostra sah Tanner an. „Du glaubst, dass es zwei waren?“ „Ausschließen kann man das nicht.“
Gernot Angerer und seine Schwester waren beim Frühstück. Brigitte Angerer goss von dem Orangensaft nach. „Sieh das doch mal anders. Ich meine, es tut mir leid, dass sie tot ist. Aber...“ „Aber was?“ „Sie kann uns die Kinder nicht mehr wegnehmen.“ „Du weißt ja nicht, was du sagst“, reagierte Angerer aufgebracht. „Genau aus dem Grund werden sie mich verdächtigen. Und ich kann ihnen nicht sagen, wo ich zur Tatzeit war.“ Brigitte Angerer sah den Wagen, der vor dem Haus hielt. „Da sind sie schon.“ Angerer stand auf. „Mach' du das. Ich bin noch nicht so weit.“
Brigitte Angerer ließ Tanner und den Maresciallo herein. „Mein Bruder ist noch im Bad. Er wird gleich hier sein. Möchten Sie etwas trinken?“ „Für mich einen Kaffee“, sagte Tanner. Terranostra lehnte ab. Tanner sah sich in dem Raum um. Die Einrichtung war hell, freundlich, modern und trug ganz sicher nicht die Handschrift von Brigitte Angerer. Mit ihren kurzen Haaren, dem altmodischen Rock, dem grauen Rollkragenpullover mit dem Zopfmuster und den froschgrünen Strümpfen erinnerte sie ihn an eine Lehrerin, die er in den ersten Schuljahren hatte. Terranostra nahm ein Buch über Polarforscher in die Hand, das auf der Anrichte lag, und blätterte darin.
„Wo sind die Kinder?“ fragte er, als Brigitte Angerer mit dem Kaffee zurückkam. „Im Moment sind sie in der Schule. Aber wir haben sie bei Freunden untergebracht, um ihnen das alles zu ersparen.“ „Erzählen Sie uns was über Nicole Angerer“, sagte Tanner. Ein Schatten ging über ihr Gesicht, und Tanner sah sofort, dass er sie an einer empfindlichen Stelle getroffen hatte. „Was soll ich sagen? Sie war...“ Verlegen lächelnd brach sie ab. „Sie mochten Ihre Schwägerin nicht.“ Brigitte Angerer war um Haltung bemüht. „Sagen wir mal, ich hatte gewisse Probleme mit ihr. Sie hat meinen Bruder und die Kinder verlassen. Ich fand das nicht anständig.“ Sie überlegte einen Moment. „Andererseits soll man ja nichts Schlechtes über die Toten sagen.“
Gernot Angerer kam herein. Er trug eine Hausjacke und war dabei, seine Krawatte zu binden. „Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht warten lassen.“ Er ging zum Tisch, trank von dem Orangensaft, der noch im Glas war, und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. „Ich habe Ihnen alles gesagt.“ Nervös schaute er auf seine Uhr und wandte sich an seine Schwester. „Hast du mein Jackett aufgebügelt?“ Brigitte Angerer nickte und ging hinaus. „Entschuldigen Sie, ich hab's ein bisschen eilig.“
„Wir können es kurz machen“, sagte Terranostra. „Wo waren Sie vorgestern Abend?“ Angerer versuchte, Zeit zu gewinnen. „Warum fragen Sie das?“ Tanner mischte sich ein. „Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt. Wir wissen inzwischen, dass Sie durchaus ein Motiv hatten. Ihre Frau wollte sich scheiden lassen, und Ihnen stand ein Sorgerechtsverfahren bevor.“ „Hat Ihnen Gaiser das erzählt?“ Terranostra reagierte unwirsch. „Wir fragen, Sie antworten. Vorgestern Abend zwischen 19 und 21 Uhr.“ Angerer überlegte einen Moment. „Im Pavillon des Fleurs. Ein Kollege hat einen Vortrag gehalten. Anschließend habe ich meine Kinder von einer Geburtstagsparty abgeholt. Das war um kurz nach 9...“
Brigitte Angerer kam mit dem Jackett zurück. Gernot Angerer zog die Hausjacke aus und krempelte die Hemdärmel herunter. Terranostra sah den Kratzer auf seinem Unterarm und war sofort bei ihm. „Sekunde. Darf ich mal sehen?“ Angerer schob irritiert den Ärmel wieder hoch. „Woher haben Sie das?“ „Den Kratzer, meinen Sie. Der ist von einem Nagelbrett. Auf der Baustelle. Ist schon ein paar Tage her.“ Terranostra gab sich anscheinend mit der Antwort zufrieden. „Das war's.“
Brigitte Angerer brachte Tanner und Terranostra hinaus. Als sie zurückkam, stand Gernot Angerer am Fenster und sah dem wegfahrenden Polizeiwagen nach. „Sie glauben mir nicht.“ „Nun wirf mal nicht gleich die Flinte ins Korn“, versuchte sie ihren Bruder zu beruhigen. Gernot Angerer streifte die Ärmel herunter und zog sich das Jackett an. „Ich ruf' Dr. Haller an. - Allein steh' ich das nicht durch.“
Stefan Gaiser kam gerade rechtzeitig. Die Polizei hatte die Versiegelung der Galerie wieder aufgehoben. Von drinnen hörte er das Telefon läuten. Er rannte hinein und nahm den Hörer ab. Der Anrufer war Palm. „Sie trau'n sich was“, sagte Gaiser. „Was erzählen Sie denn der Polizei für einen Blödsinn.“ „Ich kann Ihnen das erklären“, sagte Palm. „Ich habe meine Gründe. - Können wir uns irgendwo treffen? Es gibt Neuigkeiten über die Herkunft des Bildes.“
„Der Verbleib des Bildes würde mich im Moment mehr interessieren“, antwortete Gaiser schroff.
„Sie haben recht“, entgegnete Palm. „Wir reden über ein Bild, das wie vom Erdboden verschluckt ist.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. „Geht's noch weiter?“ fragte Gaiser. „Ja. Es gibt vermutlich keine Ansprüche von Dritten. Ich hab' mich da juristisch schlaugemacht. Und gemeinfrei ist das Bild sowieso. Weil die Schutzfrist von 80 Jahren bei einem Watteau natürlich längst abgelaufen ist.“ Gaiser schien unbeeindruckt. „Und warum erzählen Sie mir das?“ „Weil ich glaube, dass Sie das Bild haben.“ „Sie sind ja verrückt“, antwortete Gaiser und legte auf.