Die Galeristin (4)
Ein Meran-Krimi von Siegfried Schneider
Im Sommer 2010 von Siegfried Schneider
Samstag, 30. Jänner
Tanner hatte seinen Mantel noch an, als Reisinger mit einem Kaffee herein kam. „Du bist spät dran.“ Tanner nickte. „Aber erzähl' es nicht weiter. Gibt's was Neues von dem Einbrecher?“ „Das Krankenhaus hat vorhin angerufen. Er liegt noch im Koma.“ Kurz darauf erschien Gernot Angerer mit seinem Anwalt auf dem Kommissariat. Dr. Erich Haller, ein Mann um die 60, kam gleich zur Sache. „Das ist kein leichter Gang für meinen Mandanten. Aber nach Abwägung der Dinge habe ich ihm geraten, zu kooperieren. - Auch wenn er sich damit ein Strafverfahren einhandelt.“ Tanner und Reisinger sahen sich an. „Sie meinen... diesen Unfall auf der MeBo?“ Haller nickte. „Da kommt einiges zusammen“, sagte Reisinger und begann, aufzuzählen. „Verkehrsgefährdung, Körperverletzung, unterlassene Hilfeleistung, Fahrerflucht...“ „Aber kein Mord. Sie verdächtigen meinen Mandanten, seine Frau umgebracht zu haben.“ „Er hat kein Alibi für die Tatzeit“, sagte Tanner. „Und er hatte ein Motiv.“
„Sein Alibi bin ich.“ Als erfahrener Strafverteidiger wusste Haller um die Wirkung seiner Worte und legte eine gezielte Pause ein, bevor er weiter sprach. „Herr Angerer und ich waren an diesem Abend bei der Familie des kleinen Mädchens und haben einen Ausbildungsvertrag unterschrieben. Herr Angerer leistet bereits seit einigen Monaten freiwillige Zahlungen an die Familie Pasquale. Außerdem hat sich Herr Angerer bereit erklärt, die Kosten für eine noch anstehende Operation zu übernehmen, die, nach Auskunft der Ärzte, zur vollständigen Genesung der kleinen Elena führen wird. Die Familie Pasquale hat sich im Gegenzug bereit erklärt, die Anonymität meines Mandanten zu wahren und auf eine Anzeige zu verzichten.“ Gernot Angerer, der die ganze Zeit mit säuerlicher Miene dagesessen hatte, fühlte sich zu einem Schlusswort gemüßigt. „Ich trage die Konsequenzen für diesen Verkehrsunfall; aber mit dem Mord an meiner Frau habe ich nichts zu tun.“
Furlan brachte die beiden hinaus. Tanner holte tief Luft, als hätte er die ganze Zeit geredet. „Das war ein Auftritt. Was? Jetzt bleibt uns nur noch die stumme Aussage von Nicole Angerer.“ „Du meinst die Spuren unter ihren Fingernägeln.“ „Ja. Die DNA-Analyse. Haben die sich schon gemeldet?“ Reisinger stand auf. „Ich ruf' da noch mal an.“
Stefan Gaiser kam aus seinem Büro, weil er im Verkaufsraum ein Geräusch gehört hatte, und starrte in den Lauf einer Pistole. „Was soll das?“ Arnold Palm kam einen Schritt auf ihn zu und entsicherte die Waffe. „Ganz ruhig. Wir setzen uns jetzt in Ihren Wagen und fahren dahin, wo Sie das Bild versteckt haben.“ „Ich habe das Bild nicht“, versicherte Gaiser. „Das können Sie der Polizei erzählen. Ich weiß, dass Sie es haben. Und jetzt ein bisschen hoppla.“
„Angerer können wir von unserer Liste streichen“, sagte Tanner, als er zu Terranostra und Valetta in den Wagen stieg. „Und was wollt ihr in Lana?“ Terranostra wies Valetta an, loszufahren. „Ein Mann hat angerufen und gesagt, dass sein Freund Arnold Palm, der in den letzten zwei Tagen bei ihm gewohnt hat, seit heute Morgen abgängig ist. Und er hat gesagt, dass Palm bewaffnet ist.“ Terranostras Handy klingelte. Er drückte die On-Taste und hörte. „Haben wir das Kennzeichen? Okay. Durchsage an alle. Und die Kollegen in Bozen und Schlanders alarmieren. Ende.“ Er steckte das Handy wieder ein. „Gaiser ist entführt worden. Wie's aussieht, in seinem eigenen Wagen. Nachbarn haben den Vorfall gemeldet.“ Valetta kehrte um. „Du glaubst, das war Palm?“ fragte Tanner. „Hast du einen besseren Vorschlag?“
Unterwegs zur Galerie hörten sie über Funk, dass eine Carabinieri-Streife Gaisers Wagen auf der alten Reichstraße nach Bozen gesichtet hatte. „Auf Abstand dran bleiben“, gab Terranostra durch. „Kein Zugriff.“
Gaiser bog von der Hauptstraße auf einen Schotterweg ab, wo nach 300 Metern hinter einer Baumgruppe das halbverfallene Gewächshaus einer Gärtnerei auftauchte, die es schon lange nicht mehr gab. Gaiser hielt an. „Hier ist es.“ „Aussteigen“, befahl Palm. „Und keine Dummheiten.“ Sie betraten das Gewächshaus durch eine Seitentür, die nicht verschlossen war. Gaiser zog eine Plane zur Seite, auf der leere Plastik- und Keramiktöpfe, Drahtrollen und alte Lappen lagen. Darunter kam eine Eisentür zum Vorschein, durch die man über eine Betontreppe in einen Kellerraum gelangte. Im Halbdunkel erkannte Palm einen Wassertank, eine alte, verrostete Pumpe und defekte Versorgungsrohre, die von der Decke herunterhingen. Stefan Gaiser ging zögernd auf einen zweitürigen Stahlschrank zu, der in der hintersten Ecke des Kellers stand. Der Schrank war mit zwei Schlössern gesichert.
„Ihr Safe?“, höhnte Palm und stieß ihm die Pistole in den Rücken. Mit den Schlüsseln, die er an einer Kordel in der Tasche hatte, öffnete Gaiser die beiden Türen. „Da ist der Koffer.“ Palm schob Gaiser ungeduldig zur Seite. Die nackte Gier hatte ihn gepackt. Gaiser nutzte diesen Moment der Unaufmerksamkeit und schlug Palm die Schranktür in den Rücken. Der Professor verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber. Gaiser rannte auf die Treppe zu. Palm war sofort wieder auf den Beinen und feuerte mehrere Schüsse auf den Flüchtenden ab. Gaiser spürte den Schlag gegen seine Wade. Aber es gelang ihm, die Treppe hinaufzukommen und oben die Eisentür zuzuschlagen. Humpelnd lief er ins Freie, lehnte sich tief durchatmend an einen Baum und sah im selben Moment Tanner, den Maresciallo und ein halbes Dutzend Carabinieri aus ihren Wagen springen und auf das Gewächshaus zulaufen. Von drinnen waren weitere Schüsse zu hören. „Der Mann ist verrückt“, stammelte Gaiser. Während Terranostra und zwei seiner Leute mit gezogenen Waffen in das Gewächshaus stürmten, kümmerte sich Tanner um den verletzten Gaiser. Einer der Carabinieri kam mit einem Verbandskasten. „Nur ein Streifschuss“, stellte Tanner fest.
Furlan und Eller, die er unterwegs angefordert hatte, trafen fünf Minuten später ein, und nachdem die Wunde fürs Erste versorgt war, brachten sie Gaiser zum Wagen. Kurz darauf sahen sie, wie Palm in Handschellen aus dem Gewächshaus abgeführt wurde, und dahinter Terranostra mit dem Koffer.
„Was wird aus dem Bild?“ fragte Gaiser, als Tanner einstieg. Furlan, der sich ans Steuer gesetzt hatte, fuhr los. „Das kriegt jetzt erst mal der Staatsanwalt“, sagte Tanner. „Es gehört mir“, protestierte Gaiser. „Ich weiß. Und mir gehört die 'Mona Lisa'. Wollen wir tauschen? – Mensch, Gaiser! Reden Sie endlich. Das ist ihre letzte Chance, mit einem Geständnis einigermaßen aus der Sache raus zu kommen.“ Gaiser überlegte einen Moment. „Okay. Sie haben recht. Bevor ich mir einen Mord anhängen lasse.“ Und er erzählte, was an dem Tatabend passiert war. Dass Nicole Angerer nach ihrer Rückkehr von der Bank im Büro mit ihrer Mutter in Frankreich telefoniert hat, und dass er, weil das immer ein sehr langes Gespräch war, genügend Zeit hatte, den Autoschlüssel aus ihrer Manteltasche zu nehmen und den Klimakoffer in ihrem Wagen mit einem gleich großen leeren Koffer zu vertauschen. „Als ich die Galerie gegen 6 verlassen habe, hat sie noch gelebt.“ „Und warum hat Palm behauptet, dass das Bild eine Fälschung ist?“ „Weil er ein gerissener Hund ist. Er wollte jedes Aufsehen um das Bild vermeiden. Wenn das in der Öffentlichkeit bekannt geworden wäre, hätte er sich das Geschäft mit dem Watteau abschminken können.“ „Das können Sie jetzt auch.“
Im Kommissariat nahmen sie Gaisers Aussage zu Protokoll. „Was passiert jetzt mit ihm?“ fragte Furlan, nachdem sie Gaiser in die Obhut eines Sanitäters gegeben hatten. „Solange wir ihm nicht den Mord oder wenigstens eine Beteiligung daran nachweisen können – nichts. Als Mitinhaber der Galerie kriegen wir ihn nicht mal wegen Diebstahl dran.“
Reisinger rief aus dem Krankenhaus an. „Feldmann, du weißt schon, der Einbrecher, ist aus dem Koma erwacht und hat ausgepackt. – Außerdem hat sich ein Zeuge gemeldet, der an dem Abend was gesehen hat.“