Spaziergänge und Gedankengänge
Im Frühling 2021 von Dr. Luis Fuchs
Bewegung im Freien ist uns gerade in Zeiten von Corona ein Grundbedürfnis. Wir entdecken den Spaziergang von neuem, sei es zur Entspannung und Gesundheitsförderung oder auch nur, um den eigenen vier Wänden zu entfliehen. Heidy Kessler, Chefredakteurin von Rai Südtirol, berichtet im Wochenmagazin ff über ihr tägliches Ritual gegen den Corona-Blues. Zum Feierabend unternehme sie tagtäglich mit ihrem Mann einen Spaziergang zum Schloss; trotz der Eintönigkeit gebe es allein schon durch die Jahreszeiten täglich überraschend viel Neues zu entdecken. Der „Spaziergangwissenschaftler“ Martin Schmitz meint, es gebe keine Formel für einen guten Spaziergang: „Jeder Spaziergang ist ein Unikat.“
Die Weite der Natur haben Denker schon immer aufgesucht, um ihren Geist für Eingebungen zu öffnen. Nicht wenige Philosophen erwiesen sich als begeisterte und ausdauernde Spaziergänger. Der im 17. Jahrhundert lebende Philosoph Thomas Hobbes, bekannt durch seinen Grundsatz „Homo homini lupus“ (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf), hatte sich für seine Spaziergänge einen speziellen Spazierstock anfertigen lassen. Der Knauf des Stockes enthielt einen Federhalter und ein Tintenfass, und in der Manteltasche führte er ein Notizbuch mit sich. Kam ihm unterwegs ein Gedanke, notierte er ihn sofort. Jeder Spaziergang werde von einem Gedankengang begleitet, jeder Schritt von einem Gedankenschritt, bemerkte der Pädagoge Jean-Jacques Rousseau: „Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken; mein Kopf bewegt sich im Einklang mit meinen Beinen.“ Der Philosoph Sören Kierkegaard kehrte von seinen Spaziergängen meist so glücklich zurück, dass er sich anschließend unmittelbar, teilweise sogar noch mit Hut, Spazierstock und Regenschirm an den Schreibtisch setzte und seine Gedanken sofort niederschrieb. Der Philosoph Immanuel Kant, der die menschliche Vernunft in Schranken verwies, grenzte auch den Radius seiner täglichen Gänge ein. Nach dem Mittagessen brach Kant stets exakt zur gleichen Zeit zum Spaziergang auf und schlug immer den gleichen Weg ein. In Königsberg, der Heimatstadt, die der Denker zeit seines Lebens nicht verlassen hat, hieß es, man habe nach ihm die Uhr stellen können.
In Königsberg, der „Stadt der reinen Vernunft“, wie sie Kant einst bezeichnet hat, konnte der Philosoph noch in aller Ruhe seine gewohnte Runde abschreiten. In vielen Städten ist heute die Verkehrsintensität derart belastend, dass an erholsame Spaziergänge nicht zu denken ist. Im Gegenzug gibt es in manchen Metropolen Initiativen, die Stadt wieder fußgängerfreundlicher zu gestalten. Die Pariser Bürgermeisterin kündigte kürzlich an, aus den berühmten Champs-Élysées einen „außergewöhnlichen Garten“ machen zu wollen.
Goethes „Osterspaziergang“ aus dem Faust I mögen wir heuer unter einem besonderen Aspekt zu Gemüte führen. „Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden.“ Die Auferstehung hat derzeit eine aktuelle Bedeutung, nämlich das Ende der Corona-Pandemie, das Ende der Ausgangsbeschränkungen, das Reisen und Freunde treffen, ein Zustand, nach dem wir uns alle sehnen, und ein Neuanfang.