Wer warten kann, hat mehr von der Zeit
Im Herbst 2022 von Dr. Luis Fuchs
Advent bedeutet Ankunft und Erwartung. Die Christen erwarten freudig die Ankunft des Heilands, die Kinder warten aufs Christkind.
Warten können wir gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit als Vorfreude empfinden. Doch fällt manch einem das Warten gar nicht so leicht, es kann einem auch nur Zeitverschwendung bedeuten. In unserer schnelllebigen Zeit, in der wir nur auf rasche Erfolge abzielen, haben wir anscheinend verlernt zu warten. Heutzutage liegt im Warten etwas Aufreibendes und Nervendes. Wir haben keine Zeit mehr im Sinne der Devise: „Ich will alles, und zwar jetzt sofort!“ Diese Ungeduld wird bereits als „Sofortismus“ und „Schnellsucht“ bezeichnet. Unser Geduldsfaden wird immer kürzer, nichts geht schnell genug. Eine Aufstellung hat ergeben, dass wir im Schnitt bis zu einem Jahr unseres Lebens im Stau stehend und an Ampeln wartend verbringen; dies stelle eine psychologische Herausforderung dar, bestätigen Wissenschaftler.
Je nach Situation empfinden wir Zeitabstände auf ganz unterschiedliche Weise: Das Warten in einer Arztpraxis fühlen wir im Zeitlupen-Modus; geht jedoch die Rede von vergangenen Jahren, spielt sich die Erinnerung im Zeitraffer-Modus ab; es heißt dann etwa: „Kinder, wie die Zeit vergeht!“
Dereinst war der Lebensrhythmus der Menschen vom Warten geprägt, denn in agrarischen Gesellschaften war Innehalten und Entschleunigen ein Überlebensprogramm. Man musste den rechten Zeitpunkt abwarten zum Säen und Ernten, fürs Arbeiten und Feiern. Im piemontesischen Castiglione bewirtschaftet Paolo Scavino ein Weingut. In ruhigen Zeiten des Jahres sitzt der Winzer im Innenhof seines Gutes auf einem Weinfass. „Ich warte gerne“, meint er, “weil mein Produkt während des Wartens immer besser wird.“ Ein guter Wein, ist er überzeugt, braucht Zeit, genauso wie die Zubereitung eines feinen Essens. Warten sei für ihn bewusste Beschäftigung und Entspannung gleichermaßen.