Nur eine sorgende Gesellschaft kann die Welt retten

17. Juni 2022

 

Das Forschungszentrum Eurac Research, die Akademie deutsch-italienischer Studien Meran und das Chinazentrum der Universität Kiel gaben Einblicke in das Thema „care – Sorge – cura“

 

 

Care-Arbeit, Tätigkeiten der Fürsorge, Sorge und Versorgung werden weltweit schlecht bis gar nicht bezahlt. Wollte man all diese Stunden angemessen entlohnen, es wäre schlichtweg unmöglich, so viel Geld aufzubringen und würde unser kapitalistisches Wirtschaftssystem völlig aus den Angeln heben. Würde man etwa unbezahlte Hausarbeit mit dem Mindestlohn entgelten, so bräuchte es laut einer Studie von Oxfam eine Summe von 11 Billionen US-Dollar pro Jahr 24-mal mehr als der Umsatz der Tech-Riesen Apple, Google und Facebook im Jahr 2018. Es ist genau das, was die Vortragenden der Tagung „Time to Care – Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft“ mehrfach hervorhoben: In einem marktwirtschaftlich orientierten System, welches Ressourcen nur dorthin bringt, wo das Geld ist, nicht aber die Bedürfnisse, könne die aktuelle Care-Krise nicht gelöst werden. Ein Wandel sei dringend notwendig.

 

Anhand dreier Themenblöcke (interkulturelle Betrachtungen, aktuelle Herausforderungen und Zukunftsperspektiven für den Wandel) hangelten sich international renommierte Speakerinnen und Speaker auf Einladung des Center for Advanced Studies von Eurac Research, der deutsch-italienischen Akademie Meran und des Chinazentrums der Universität Kiel von einer Argumentationslinie zur nächsten. Angelika Messner, Sinologin und Anthropologin an der Universität Kiel, gab einen Einblick in die chinesische Realität, in der etwa die Pflege der eigenen Eltern eine zentrale Tugend darstellt. Eine Tugend, der viele junge Chinesinnen und Chinesen nicht mehr gerecht werden können. Der aktuelle 4-2-1-Schlüssel (4 Großeltern, 2 Eltern, 1 Kind) und die Überalterung der Gesellschaft mache es unmöglich, diesen Generationenvertrag aufrecht zu erhalten. Auch umfasse Fürsorge und Pflege einen ganzheitlichen Dienst am Menschen, der über reine Versorgungstätigkeiten hinausgehe. Die Einrichtung öffentlicher und kostenloser Arztpraxen, in denen sich bedürftige Personen unlimitierte Zeit aufhalten können, sei ein wichtiger Schritt für eine bessere Gesundheitsversorgung der breiten Bevölkerung. Der Zugang zu und das Wissen über gesundheitliche Leistungen waren Themen des Vortrages von Matteo Valoncini, Anthropologe an der Universität Bologna. Man müsse das allgemeine Wohlbefinden fördern, die sozio-kulturelle Dimension von Gesundheit (etwa sozialer Status, Einkommen, Wohnsituation und Bildungsstand) wieder in den Mittelpunkt stellen und die Versorgung kleinräumig organisieren - etwas, das auch die Juristin Federica Grandi unterstrich. Es fehle an Pflichtbewusstsein und Solidarität, was aber auch damit zusammenhänge, dass Personen sogar im Gesundheitssystem mehr als Konsumierende denn als Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen würden. Kollektive Güter wie Gesundheitsvorsorge und eine intakte Natur seien jedoch abhängig von der Pflichterfüllung einzelner. Die Rechte künftiger Generationen stünden in direktem Zusammenhang mit den Pflichten jetziger Generationen und verdeutlichen die Notwendigkeit, das Recht mit seiner oft vagen Formulierung mit ganz konkreten Pflichten in Verbindung zu setzen.

 

Über die globale Dimension der Care-Krise sprach Irem Güney-Frahm, Stiftung Südtiroler Sparkasse Global Fellow am Center for Advanced Studies. Sie thematisierte die Global Care Chains, die globale Betreuungskette. Viele junge Frauen weltweit verlassen ihre Familien, um im Ausland die Care-Arbeit für Kinder und alte Menschen zu übernehmen. Vielfach leben die Hausangestellten unter demselben Dach wie die Personen, für die sie arbeiten. Der Lohn wird zurück in die Heimat geschickt, wo sich inzwischen wieder andere, etwa die Großmutter, um die eigenen Kinder kümmern. Diese Konstellationen seien insofern problematisch, als dass es besonders häufig zu Menschenrechtsverletzungen, schlechten Arbeitsbedingungen, Ausbeutung durch Vermittlungsagenturen oder Arbeitgeberfamilien komme. Nicht zu vergessen sei auch die Versorgungslücke, die sich in der eigenen Familie auftut. Auch der Zugang zum Rechts- und Gesundheitssystem sowie die Mobilität dieser Arbeiterinnen seien stark eingeschränkt. Die Covid-19-Pandemie habe all diese Probleme nochmals verschärft.

 

Was Tourismus und Pflege voneinander lernen können, zeigten Harald Pechlaner und Giulia Isetti vom Center for Advanced Studies auf. Beziehungs- und Begegnungsqualität seien in beiden Bereichen zentral. Auch große Tourismuskonzerne hätten dies bereits erkannt, wie etwa die Marriott-Gruppe, die nun auch auf Senioren-Residenzen setzt – für jene, die es sich leisten können. Care dürfe jedoch in keinem Fall zum Luxusgut werden.

 

Um Gesellschaft aus einer Care-Perspektive tatsächlich neu zu denken, bedarf es eines radikalen Systemwandels. Nur eine sorgende Gesellschaft könne die Welt retten, wie es Friederike Habermann vom Commons-Institut formulierte. Die Sorge für alles Lebende müsse vor dem Produktivitätszwang rangieren, die Vielfalt unserer Fähigkeiten in der Welt tätig zu werden, gefördert werden – auch, wenn diese Tätigkeiten keinen Geldwert mit sich bringen. In diesem Zusammenhang wurden Grundeinkommen und Arbeitszeitverkürzung als mögliche Maßnahmen auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft hervorgehoben. Man müsse Lebensläufe wieder atmen lassen, die allgemeine Verletzlichkeit des Menschen und der Natur anerkennen, Platz für Emotionalität und Empathie schaffen und vor allem anerkennen, dass es Grenzen gibt, diese auch akzeptieren und nicht überschreiten, betonte die Ökologin und Politikberaterin Christine Katz. Emma Dowling, Tenure-Track Professorin am Institut für Soziologie der Universität Wien, brachte es auf den Punkt: professionelle Sorgearbeit brauche mehr Geld, nicht professionalisierte Sorgebeziehungen mehr Zeit. Tatsächlich umsetzbar sei dies aber nur in einer postkapitalistischen Gesellschaft. Der Weg dahin scheint noch weit, die Zeit ist dafür aber allemal reif.

 

 

 


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