Warum Kinder nicht still sitzen können
Im Herbst 2016 von Treffpunkt Familie
„Eine unbekannte Person hat sich bei mir am Telefon ausgeheult. Sie beschwerte sich über ihren sechsjährigen Sohn, der in der Klasse nicht still sitzen kann. Seine Schule will ihn auf ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) testen lassen. Das kommt mir bekannt vor, dachte ich mir. Als Kinderpsychologin fällt mir auf, dass dieses Problem heutzutage weit verbreitet ist.
Die Mutter erklärt mir, dass ihr Sohn jeden Tag mit einem gelben Smiley nach Hause kommt. Die anderen Kinder in seiner Klasse bekommen jeden Tag einen grünen Smiley für ihr gutes Benehmen. Jeden Tag wird dieses Kind daran erinnert, dass sein Verhalten inakzeptabel ist, nur weil es für längere Zeit nicht still sitzen kann. Die Mutter fängt an zu weinen: „Er sagt Dinge wie „Ich hasse mich“ und „Ich bin für nichts zu gebrauchen.“
„Das Selbstwertgefühl dieses Jungen tendiert gegen Null, nur weil er mehr Bewegung braucht“, berichtet die pädiatrische Ergotherapeutin Angela Hanscom.
Kinder brauchen Bewegung, um sich gesund entwickeln zu können.
Ein gesundes Kind zwischen 1 und 15 Jahren muss ca. 2.000 Arm- und Beinbewegungen in der Stunde machen, sagt der bekannte Schweizer Kinderarzt Remo Largo. Kinder brauchen alle Tage Bewegung. Ironischerweise laufen viele Kinder mit einem unterentwickelten Gleichgewichtssinn herum – wegen mangelnder Bewegung. Um ein gutes Gleichgewichtsgefühl zu bekommen, müssen Kinder ihre Körper in alle Richtungen bewegen, mehrere Stunden am Stück. Genau wie beim Training müssen sie das mehrmals pro Woche tun. Deswegen sei ein oder zwei Mal pro Woche Fußballtraining nicht genug, um ein starkes sensorisches System zu entwickeln, so Largo.
Zappeln ist ein starker Indikator dafür, dass Kinder nicht genügend Bewegung bekommen.
Für viele Eltern und Lehrer ist das Zappeln ein echtes Problem. Wenn Kinder heute in die Schule gehen, ist ihr Körper schlechter aufs Lernen vorbereitet als jemals zuvor. Dass Kinder irgendwann anfangen herum zu zappeln, um ihren Körpern die Bewegung zu geben, die sie dringend brauchen, um „ihr Gehirn in Gang zu bringen“, ist ganz normal.
Was passiert, wenn Kinder herumzappeln? Wir fordern sie dazu auf, still zu sitzen und ihr Gehirn kehrt in den „Schlafmodus“ zurück, erklärt Angela Hanscom.
Damit Kinder lernen und aufmerksam sein können, brauchen sie viel mehr Bewegung als die meisten haben. Nur so kommt ihr Gehirn in Schwung und wird aufnahmefähig. Somit stellt sich nicht mehr die Frage, ob Kinder nicht reif genug für die Schule sind, sondern ob die Schule noch nicht genug über Kinder weiß. Pausen müssen verlängert werden, stundenlanges Sitzen muss vermieden werden.