Almwirtschaft - gestern und heute
Im Sommer 2013 von Dr. Johannes Ortner
Die Welt der Almen
Was wäre Südtirol ohne seine Almen? Was wäre der Alpenbogen ohne das Glockengebimmel der Kühe, das Blöken der Schafe und ohne den kernigen Hiatpua in seiner krachledernen? Gäbe es die Almen nicht – man müsste sie erfinden! In den Hochglanzbroschüren der Tourismus-Werbung jedenfalls machen sie sich gut...
Zugegeben, mit Alm-Romantik hat das moderne Senner/-innen-Dasein nichts zu tun: Aufstehen im Morgengrauen, Melken der Milchkühe, Beaufsichtigung von Galtvieh, Schafen, Ziegen und Schweinen, Käsen in der Sennerei, Aufschank für die Gäste. Im letzten Abendlicht noch einen Juchizer zur Nachbaralm geworfen und man fällt abends ermattet in die Federn... Erotische Klischees à la af der Ålp, do gips koa’ Sünd (Zusatz: weil der Pfårrer nit auerkimp...) bedienen sich eher Freizeit hungrige Stadtlinger und Erholung suchende Bergwanderer. Derart gestaltete Fantasien wurzeln jedoch in den beengten Schlafverhältnissen der Alphütten.
Geschichte der Almwirtschaft
Gesicherte Funde belegen eine almwirtschaftliche Nutzung der Hochgebirge bereits in der Jungsteinzeit und dann verstärkt in der Bronzezeit (2200 – 800 v. Chr.). Aufgrund der geringen Bevölkerungszahl wird sich die frühgeschichtliche Weidenutzung in Grenzen gehalten haben. Ab dem Mittelalter (wärmeres Klima, Bevölkerungswachstum) wurden die heute bekannten großen Almflächen durch Rodungen immer tiefer in den Wald geschlagen. Dies ermöglichte früheres Auftreiben und führte zu einer Intensivierung der Waldweide. Ab dem 16. Jahrhundert („Kleine Eiszeit“) wurden die ehemaligen Höfe über der 2000-Meter-Marke (z. B. Moaralm und Gampl am Fuchsberg zwischen Naturns und Katharinaberg) wieder zu Almen umgewandelt.
Die Almwirtschaft in klassischem Sinne – als gesonderter Wirtschaftskreislauf fern des Heimathofes – hat sich bis heute immer wieder den wechselnden ökologischen und gesellschaftlichen Bedingungen angepasst. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stand die Aufzucht von Jungrindern und Mastvieh (Fleischproduktion) im Mittelpunkt des Almlebens. Das Milchvieh weidete indes in den arg strapazierten Heimwäldern. Transporttieren wie Ochsen und Pferden – letztere beweideten die sumpfigen Hochmoore – standen gesonderte Weidegründe zur Verfügung (Ochsenleger, Rossberg). Um 1850 herum kam es zum Wandel von der Galtalm hin zur Sennalm: Im Vordergrund standen von nun an die Herstellung von Butter und Käse. Sie boten eine „Konzentration“ der Milch und ihre Konservierung, da sie in der Regel nicht transportiert werden konnte. Um 1950 erreichte die Senn-Almwirtschaft ihren Höhepunkt, um ab den 1960er Jahren – in Folge der Mechanisierung (Einsatz von Maschinen), Rationalisierung und Spezialisierung (Grünlandwirtschaft) der Landwirtschaft – rapide an Bedeutung einzubüßen, nicht zuletzt wegen des Mangels an Almpersonal. Knechte, Dirnen und weichende Erben begannen gutes Geld als Handwerker oder Fabrikarbeiter zu verdienen, anstatt sich für Kost und Logis bzw. Gotteslohn abzurackern. Traktoren statt Ochsen, Kunstfaser statt Wolle, billig importierte Lebensmittel statt Fleisch und Getreide aus eigener Herstellung. Dies gilt – nebenbei bemerkt – auch für den Südtiroler Speck, dessen Ausgangsprodukt sich in der Regel nicht in Almängern suhlte, die von Brennnesseln und Gutem Heinrich umsäumt waren.
Überflüssig wurden die Almen jedoch nicht: heute wird auf Südtiroler Almen fast nur mehr Galtvieh (mundartlich gålt „nicht geschlechtsreif“, „mager“) aufgetrieben und ein bis zwei Milchkühe, für den Eigengebrauch, auf dem Almanger gehalten. Trotzdem finden sich vermehrt junge Leute – G’studierte aus dem städtischen Umfeld – die nach einem Sennkurs die Knochenarbeit des Käsens auf der Alm auf sich nehmen. Aus Liebe zur Sache – und einer um sich greifenden Laktose-Unverträglichkeit zum Trotz. Geld verdient man damit wenig, außer man heuert auf einer Schweizer Alm – etwa im benachbarten Graubünden – an, wo Alparbeit finanziell noch honoriert wird. Andreas Kasal vom Amt für Bergwirtschaft (Abteilung Forstwirtschaft) des Landes Südtirol räumt dann auch ein, dass manchen Vertretern des Bauernstands die Begeisterung für die Viehzucht in freier Natur abgeht. Eine Grund-Zufriedenheit und Selbstgenügsamkeit wird mehr und mehr zum Garanten für die langfristige Nutzung unserer Almen – und unserer Berghöfe (Interview Almatlas, S. 55).
Warum überhaupt Almen?
Die Alpung ist – schlicht gesagt – das Ausnützen entfernter Weideflächen. Aber wäre es für den Bauern nicht günstiger, das Vieh auf dem Hof zu halten wie er es heute tut? Am Hof fehlten früher einfach die Weideflächen: die Bergwiesen waren die Futterreserve des Winters, auf den Feldern wurde mancherorts zu über 50 % Korn angebaut. Das Vieh musste sich also die Urwiesen erschließen und diese befinden sich zwischen der Waldgrenze und der nivalen Zone, wo Lawinenrinnen und der lange Schneedruck im Verbund mit der Rodungstätigkeit des Menschen eine breite baumfreie Zone einrichteten.
Welche Vorteile weist die Almwirtschaft auf?
Hochqualitatives Futtergras (Almgräser wie Marbl und Mataun weisen einen hohen Nährstoff- und Vitaminanteil auf und sind wohlschmeckender als die gedüngten Fettwiesen),
Sonnenlicht (eine mäßige UV-Strahlung fördert die Gesundheit des Weideviehs, das im Winter in dunklen Ställen gehalten wurde),
Bewegung für das Alpvieh (das Weiden in steilem Gelände fördert Trittsicherheit und stärkt Muskulatur und Knochenbau der Rinder, besonders das kleine Grauvieh hat sich den steilen Alpflächen angepasst).
Aus all den genannten Gründen galt die Alm als „Jungbrunnen der Viehzucht“ und war – neben der Milchwirtschaft – die Grundlage für die Aufzucht widerstandsfähiger einheimischer Rassen. Für einen artgerechten extensiven Weidebetrieb der Zukunft bieten sich Almen förmlich an!
Veränderung der Almweiden heute:
Ohne regelmäßigen Weidegang „verbuschen“ die Almen durch Almrosen und Latschenkiefer (mundartlich Zeten bzw. Zuntern), die früheren sticklen Ruaner werden von Junglärchen besiedelt, während wenige ebene Almweiden, die so genannten Leger noch offen gehalten werden. Die genügsamen Schafe und Ziegen könnten der Verstrauchung Paroli bieten: die Goas – die „Kuh des kleinen Mannes“ – knabbert am Laub der Sträucher, beweidet steilstes Gelände und verursacht wegen ihres geringen Gewichts keine Trittschäden. Auch das Schaf ist im Kommen: es bleibt unbehirtet und besiedelt hoch gelegene Weiden. Seine Hochburgen sind die Ötztaler und Stubaier Alpen.
Die offene Landschaft in der „Kampfzone“ zwischen Wald und den alpinen Rasen machen den Landschaftstyp Almweide ökologisch wertvoll. Besonders die Wichtigkeit für den Wasserhaushalt – das in der Biomasse steckende Wasser wird als „grünes Wasser“ bezeichnet – wird immer höher eingeschätzt, so die Biologin Ulrike Tappeiner. Nicht lange, und es werden für das Entstrauchen der Almen Landschaftspflegeprämien ausbezahlt werden – und für das Brechen einer blühenden Alpenrose wird gleichzeitig eine Geldbuße verlangt...
Sind die Almen ein Auslaufmodell?
Nein! Der Almbetreiber hat sich neue Einkommensmöglichkeiten erschlossen: Gastbetrieb, Direktvermarktung der Produkte durch bewirtete Almhütten bzw. Alpgasthäuser und die Anbindung an die digitale Welt – gerade Nebenerwerbsbauern finden hier ein lukratives Betätigungsfeld vor.
Vor allem der Tourismus (Wirtschaftsfaktor Nr. 1 in Südtirol) ist auf eine gepflegte Almlandschaft angewiesen. Offene Weiden, einzelne Baumgruppen, der ungehemmte Blick in die Ferne, das sind zentrale Elemente einer gewachsenen Kulturlandschaft, welche ästhetischen Liebreiz und ökologische Vielfalt vereinen.
Sehr gut lassen sich Events wie der Trieb der Vinschger Schafe über den Schnalser Gletscher ins Ötztal oder der Almabtrieb im September ausschlachten, wo sie zu Tausenden zur Gaudi der Zuschauer und Zuschauerrinnen in ihren Pferchen (Viehschoat) muhen, blöken und brüllen! Die Blumen auf der Stirn der Krånzkua, der Ziehorgel spielende, wettergegerbte und Pfeife rauchende Alm-Öhi auf seinem Bankl vor der Hütte, die jungen jodelnden Sennerinnen im Diandl, die sonnengebräunten Schindeln – das sind Zugpferde der Werbung, welche die Sehnsüchte des Großstädters nach dem viel beschworenen Echten, nach dem „Authentischen“ wecken.
Und nicht zuletzt kommt den Almen eine zunehmende gesellschaftliche Relevanz zu. Sie stiften Identität, stärken das Selbstverständnis des Einheimischen als „Älpler“ irgendwie dazuzugehören, obwohl man seinen Unterhalt schon seit zwei Generationen nicht mehr aus der Landwirtschaft bestreitet.
Almatlas
Seit Juli 2013 liegt eine brandneue und – wie ich finde – besondere Publikation zum Almwesen im mittleren Alpenraum vor: der Arge-Alp-Almatlas. Auf 200 Seiten erfährt der interessierte Leser Wissenswertes zur Almbewirtschaftung, zur manchmal kontrovers diskutierten Frage der Erreichbarkeit per Straße, zur ökologischen Funktion der Almen, zur touristischen Nutzung oder zur Lebensmittelproduktion, garniert mit vielen Karten, Interviews und Einzelfallstudien.
Zahlen, Daten und Fakten aus dem Almatlas:
Im Untersuchungsgebiet der Arge-Alp-Länder ( = Arbeitsgemeinschaft Alpenländer, 1972 entstanden, es handelt sich um eine Organisation für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Vernetzung alpiner Regionen), nämlich St. Gallen, Graubünden, Trentino, Süd-, Nord-, Osttirol, Salzburg, Bayern und Vorarlberg, gibt es an die 9000 bewirtschaftete Almen (2151 in Tirol, 1787 in Salzburg, 1738 in Südtirol, 1438 in Bayern, 748 in Graubünden, 543 in Vorarlberg, 458 im Trentino).
Südtirol: 15,8 % der Landesfläche ist Netto-Almfläche (effektiv beweidete Fläche), die Durchschnittsgröße pro Alm beträgt 85 ha. Große Almen sind in der Regel Gemeinschafts- und Genossenschaftsalmen, kleine sind Privatalmen.
Seit 1850 ist die Durchschnittstemperatur im Alpenraum um 1,6°C gestiegen – somit auch die Vegetationsperiode ( = Jahresdurchschnitts-Temperatur von 5°C) um 23 Tage!
Um die 85 % aller Almen in Südtirol – 86 % im Arge-Alp-Gebiet – sind mit einer Zufahrt erschlossen, was aber nicht heißt, dass die Zukunft dieser Almen gesichert ist, dies hängt in erster Linie von der persönlichen Motivation des Besitzers ab.