Besuch im Sommer, rechtzeitig vor der Weihnachtszeit
Im Winter 2013 von Waltraud Holzner
Es war heuer im August, Sie erinnern sich: 37 Grad draußen im Schatten, 30 Grad im Haus.
Ich sitze vor einem leeren Blatt Papier und möchte eine Weihnachtsgeschichte schreiben. Im Advent ist es dafür zu spät, da sollte ich sie vorlesen. Das Schreiben wäre natürlich eine leichte Sache, wenn mir etwas einfiele. Nicht der übliche Kitsch, wo sich das Schicksal eines sich in Not befindlichen Menschenkindes just am Hl. Abend zum Guten wendet. Auch nicht eine der literarisch meist höherwertig eingeschätzten, aber düsteren Geschichten, wo sich das Schicksal eines in Not befindlichen Menschenkindes auch am Hl. Abend nicht zum Guten wendet.
Und wie ich da lange vor meinem leeren Blatt Papier brüte, steht auf einmal ein junger Mann neben mir. Ein sympathischer Bursche, sicher nicht älter als 25 Jahre, sportlicher Typ, in verwaschenen Jeans, dunklem T-Shirt, die nackten Füße in blauen Flip-Flops. Seltsam, er kommt mir bekannt vor, etwas sticht in meinem Herzen, er erinnert mich an ... Hm, vielleicht erschreckt mich deshalb sein plötzliches und unangemeldetes Erscheinen nicht.
„Wie sind Sie ins Haus gekommen? Wer sind Sie und was wollen Sie?“, frage ich resolut.
Er holt sich einen Sessel und setzt sich zu mir.
„Du kannst mich duzen!“, bietet er mir freundlich an. „Ich bin Dein Engel und ich weiß, dass du ein Problem hast.”
„Sapperlot!”, sage darauf ich. „Probleme hatte ich ja genug in meinem Leben, aber jetzt sitze ich tatsächlich wieder einmal in der Tinte.”
„Eher im Trockenen ...”, verbessert mich der, der sich als Engel ausgibt. „Dir fällt keine Weihnachtsgeschichte ein. Soll ich Dir helfen?”
Vorerst bin ich sprachlos. Er fährt fort: „Du kannst Dir ja denken, dass ich mit Insider-Infos aufwarten kann. Na?”
Verwirrt stammle ich: „Wie heißt Du?”
„Rate!”, schlägt der Engel vor.
Das regt mich auf. „Also bitte, ich kann doch nicht hunderte Namen aufzählen. Einer von den Erzengeln, also der Michael oder der Gabriel bist Du wohl nicht!”
„Stimmt! Welchen Namen würdest Du mir geben?”
„Na ja, wenn Du ein Engel bist, würde ich Dich halt Angelo nennen”, sage ich auf gut Glück.
„Super! Gut geraten. Ich bin tatsächlich Angelo.” Er nickt und schlägt sich mit der Hand aufs Knie. Jetzt schaut er meinem Enkel ähnlich.
Ich hole tief Atem und frage zweifelnd: „Kann es sein, dass Du nur meiner Einbildung entsprungen bist?”
Angelo schmunzelt, etwas spöttisch, wie mir scheint, lehnt sich zurück, streckt die jeansbehosten Beine von sich und langt mit seiner Hand zu mir herüber, um sie betasten zu lassen. Zaghaft will ich sie ergreifen, aber im letzten Moment lass’ ich’s sein und verschränke meine Arme. Er grinst und zwinkert mit den Augen.
Ich bin ein bisschen verlegen. „Eigentlich habe ich mir einen Engel anders vorgestellt.”
Er sieht mich fragend an. „Wirklich? Vielleicht mit weißem Nachthemd, silbernem Stirnreif und Federflügeln oder in einem goldenen Prachtgewand oder gar als dickliches, nacktes Kleinkind?“ Etwas in seinen Gesichtszügen erinnert mich nun an meine Großmutter.
„Ist ja gut. Deine Aufmachung ist zwar verwirrend, aber ich habe damit kein Problem. Also sag mir, wie ist es im Himmel?”
Mein Gegenüber schüttelt den Kopf. „Du stellst die falsche Frage. Den Himmel kann ich Dir nicht beschreiben, das ist so, als wolltest Du einem von Geburt an Blinden die Farbe Rot erklären. Wenn ich behaupte, es sei im Himmel superhypermegacool, dann bestätigt das doch nur Deine Annahme, ohne Deiner Vorstellung auf die Sprünge zu helfen.” Jetzt schaut Angelo ein bisschen aus, wie mein Vater.
Ich spreche ihn darauf an: „Es ist eigenartig, in Deinem Gesicht, das unverändert Deine Züge behält, finde ich wechselnde Ähnlichkeiten mit lebenden und verstobenen Menschen, die ich geliebt habe und immer lieben werde.”
„Eines der unendlich vielen Geheimnisse der himmlischen Sphären”, sagt Angelo sanft. „Es ist im Herzen der Menschen verborgen und in der Ewigkeit.”
Weil ich nichts kapiere, seufze ich und gebe ihm damit zu verstehen, dass er meine Geduld strapaziert. Ich will endlich Infos haben. Er sei doch gekommen, um mir weiterzuhelfen. Also bitte!
„Du könntest eine Geschichte schreiben, die vom Christkind handelt. Kinder lieben Christkind-Geschichten”, meint der Überirdische.
Dass gerade ein Engel diesen Vorschlag macht ... Da ist wohl Protest angebracht: „Soviel ich weiß, geistert das Christkind und der Brauch, Angehörige und Freunde zu beschenken, erst seit ungefähr 300 Jahren durch die weihnachtlich erhitzten Köpfe. Also bitte, Angelo! Ihr Engel, Pakete schleppend und Alleluja singend, angeführt von einem blondlockigen Kind im Grundschulalter mit weißem Hemd und Heiligenschein – Du kannst mir doch nicht weismachen, es hätte so etwas je gegeben. Das Christkind ist doch eine Fantasiegestalt, eine Fiktion!“
„Ja und nein“, entgegnet der Engel.
„Was heißt ja und nein? Gibt es nun das Christkind als Gabenbringer oder nicht?“
„Bevor ich Dir das beantworte, musst Du Dir Gedanken über das Schenken machen. Hier liegt das Problem. Es gibt nämlich viele Arten des Gebens und des Nehmens.“ Angelos Blick ist auf einen kleinen Kieselstein gerichtet, der bei meinen Schreibutensilien auf meinem Tisch liegt. Er lächelt.