Cuno Tarfusser, ein Meraner, der Rechtsgeschichte schreibt
Im Winter 2017 von Eva Pföstl
Cuno Tarfusser, in Meran geboren und aufgewachsen, ist seit März 2009 einer der insgesamt 18 Richter des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) mit Sitz in Den Haag (NL). Im März 2012 wurde Tarfusser zum Vizepräsidenten des IStGH gewählt. Zur Zeit ist Tarfusser Vorsitzender der Hauptverhandlungskammer und arbeitet am Verfahren gegen den Präsidenten der Elfenbeinküste und einen seiner Minister. Es ist der erste Prozess des Weltstrafgerichts gegen einen ehemaligen Staatschef. Bevor Tarfusser zum Richter des IStGH gewählt worden ist, hat er seine gesamte Karriere in Italien als Staatsanwalt absolviert, und zwar vom Jahr 1985 bis zum Jahr 2001 als ermittelnder Staatsanwalt und von Juli 2001 bis März 2009 als leitender Oberstaatsanwalt am Landesgericht Bozen. Seit 2016 ist Tarfusser auch Präsident der Akademie für deutsch-italienische Studien in Meran, über die wir ausführlich in der nächsten Ausgabe des Meraner Stadtanzeigers berichten werden.
Tarfusser, der Meraner mit starker Persönlichkeit, lacht bei der Begrüßung herzlich, kommt jedoch sofort zur Sache. Er bezeichnet sich nicht als „Weltretter“, will jedoch mit seiner Arbeit Rechtsgeschichte schreiben – und schreibt sie bereits! Doch die Weltjustiz steht unter Druck.
Meraner Stadtanzeiger (MS): Woran bemisst sich für Sie der Erfolg Ihrer Arbeit? Geht es um die Genugtuung für die Opfer oder die symbolische Strahlkraft, die von den Urteilen ausgeht?
C. Tarfusser: Schwierige Frage. Den Erfolg meiner Arbeit messe ich in erster Linie daran, dass ich nach bestem Wissen und Gewissen das Gesetz angewandt habe. Ich muss mich an die Gesetze halten und diese auf den konkreten Fall hin interpretieren, ungeachtet der Auswirkungen. Natürlich ist es erfreulich, wenn man ein gutes Feedback bekommt und die Prozessparteien zufrieden sind. Man soll die Hürde jedoch nicht allzu hoch setzen und glauben, dass man ein „Weltretter“ sei, sondern einfach versuchen, seine Arbeit so gut wie möglich zu machen.
MS: Das Weltstrafgericht ist erst 14 Jahre alt und nun wollen einige Staaten (Südafrika, Burundi und Gambia) den Vertrag aufkündigen. Macht Ihnen das Sorgen?
C. Tarfusser: Ja und nein. Auf der einen Seite mache ich mir keine Sorgen, denn im Gegensatz zu anderen Strafgerichten (Ruanda, Jugoslawien) ist ja der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) durch einen internationalen Vertrag ins Leben gerufen worden. Dieser Vertrag kann wie jeder andere Vertrag auch gekündigt werden und er sieht dies auch ausdrücklich vor. Kein Staat ist gezwungen, dem IStGH beizutreten oder für immer Mitglied zu sein. Es ist gang und gäbe, dass man aus Verträgen austritt und deswegen mache ich mir keine Sorgen.
Es macht mir allerdings Sorgen, wenn ich daran denke, wie unstabil die internationale Staatengemeinschaft geworden ist. Seit der Unterzeichnung des Abkommens zur Gründung des Gerichts im Jahr 1998 und dessen Inkrafttreten im Jahre 2002 hat sich die Welt stark verändert. In den Jahren rund um die Jahrtausendwende hat man den Zusammenhalt der Staaten förmlich gespürt. Das rasche Inkrafttreten des Statutes war ein großer Erfolg, wenn man bedenkt, dass dieses im Falle anderer wichtiger völkerrechtlicher Verträge oft sehr lange auf sich warten lässt. Heute ist die Welt stark ins Wanken geraten. Wir brauchen nur täglich die Nachrichten zu hören, um dies zu spüren.
Was spezifisch Südafrika betrifft, beruht der angekündigte Rücktritt aus dem IStGH auf einer richterlichen Entscheidung, die ich getroffen habe und die Südafrika offensichtlich nicht gefallen hat. Ohne hier auf die Einzelheiten dieser Entscheidung einzugehen, kann ich nur sagen, dass ich stolz bin, diese genau so getroffen zu haben und sie nochmals so treffen würde.
MS: Können Sie sich noch Weltstrafgericht nennen, wenn immer mehr Mitgliedsstaaten drohen, ihre Unterstützung zu entziehen?
C. Tarfusser: Ja, wir können uns noch Weltgericht nennen. Der IStGH wurde von Anfang an als universelles Gericht konzipiert, für alle Kontinente und für alle Staaten. Heute gehören 124 Staaten dem Den-Haager-Strafgerichtshof an. Über den Rücktritt der afrikanischen Nationen wird viel geredet. Aber schauen Sie sich die Realität an. Bei der Jahresversammlung des Gerichts in November waren alle Mitgliedstaaten anwesend. Gambia hat den Rücktritt vom Rücktritt erklärt und was Südafrika betrifft, so ist der Austritt laut Gesetz erst ein Jahr nach Angabe der entsprechenden Erklärung wirksam. In der Zwischenzeit gibt es auf diplomatischer Ebene Gespräche, um auch Südafrika zum Rücktritt vom Rücktritt zu bewegen. Natürlich gibt es immer wieder Fluktuationen und es wird sie auch in Zukunft geben, aber damit muss man leben. Nicht nur auf der internationalen Bühne ist es normal, dass man zwei Schritte vor und dann oft einen Schritt zurückgehen muss. Es ist ein ongoing process!
MS: Bleibt ein nicht unerheblicher Geburtsfehler: Ausgerechnet Weltmächte wie die USA, China und Russland gehören nicht dem Gerichtshof an, dabei sind sie oft Teil des Konfliktgeschehens – zum Beispiel in Syrien.
C. Tarfusser: Ja, die größten, bevölkerungsreichsten Staaten der Erde wie Russland, China, die USA, Indien und fast alle arabischen Staaten sowie Israel und Iran gehören nicht dem IStGH an. Aber wer weiß, wie sich die Zukunft entwickelt. Allerdings haben die USA, Russland und China aber als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat von ihrem Vetorecht keinen Gebrauch gemacht, als entschieden wurde, die Fälle Sudan und Libyen an den IStGH zu überweisen. Ich möchte auch betonen, dass die USA und Russland große Beobachterteams zur Vollversammlung des IStGH schicken. Außerdem hätte es bestimmte Verhaftungen ohne die Mithilfe der USA nicht gegeben. Nicht Mitglied des IStGHs zu sein, heißt nicht, dass man die Arbeit des Gerichts ignoriert oder sogar dagegenarbeitet. Die US-Regierung unterstützt das Gericht in einzelnen Fällen. Aber immer noch will sie sich nicht der Rechtsprechung in Den Haag unterwerfen. Diese Begründung ist einzig und allein eine politische und mit dem neuen Präsidenten Donald Trump wird sich die Situation wohl kaum zum Besseren verändern.
MS: Moskau wirft Ihnen Geldverschwendung und Ineffizienz vor?
C. Tarfusser: Die Vorwürfe von Moskau stimmen zum Teil. Der IStGH ist nicht perfekt, aber wir versuchen, uns zu verbessern, indem wir Ausgaben und die Dauer der Verfahren optimieren. Man muss aber bedenken, dass das Gericht noch in den Kinderschuhen steckt. Für die Entwicklung eines solchen Gerichtes braucht es Jahrzehnte. Für mich persönlich ist es jedoch ein Privileg, an einem solchen Gericht mitzuarbeiten, schließlich schreiben wir ja Geschichte.
MS: Einige Staatschefs werfen Ihnen Doppelmoral vor: Sie jagen vor allem Afrikaner, die Mächtigen der Welt aber lassen Sie laufen.
C. Tarfusser: Das ist ein Blödsinn, denn wir müssen uns an die Gesetze halten, ganz einfach! Der einzige Zweck unserer Aktivitäten in Afrika ist es, den Opfern von Verbrechern in Afrika zu helfen, indem wir die Täter zur Rechenschaft ziehen. Das kann man sicher nicht Rassismus oder Neokolonialismus nennen. Würde der IStGH sich nicht um die Rechtsprechung bemühen, gäbe es in gewissen Staaten wahrscheinlich gar keine. Dem Vorwurf, afrikafeindlich eingestellt zu sein, muss ich vehement widersprechen ̶ schauen Sie doch nur, wie viele afrikanische Mitarbeiter bei uns am IStGH arbeiten: Den Posten des Chefanklägers – die wohl exponierteste Stellung am IStGH – bekleidet die aus Gambia stammende Juristin Fatou Bensouda. Der Vorwurf ist schlicht eine Frechheit. Im Übrigen kommt diese Kritik vor allen von denen, die das Gericht zu befürchten haben, also von den Machthabern, nicht aber von den Opfern der Verbrechen, und dies gibt zu denken.
Die Haltlosigkeit dieser Anschuldigung wird noch klarer, wenn wir die drei möglichen Wege, wie ein Fall zum IStGH gelangen kann, analysieren: Der IStGH kann, erstens durch eine Anzeige eines Vertragsstaates, zweitens durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates und drittens durch die eigene Ermittlungsinitiative der Anklagebehörde am IStGH aktiviert werden. Von den derzeitigen zehn anhängigen „Situationen“ wurden immerhin fünf durch die Regierungen der betroffenen afrikanischen Staaten angestoßen (Mali, Uganda, Demokratische Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik); zwei Krisensituationen (Libyen und Sudan) wurden dem Gerichtshof zur Ermittlung vom UN-Sicherheitsrat übergeben und nur zwei Ermittlungssituationen (Kenia und Elfenbeinküste) beruhen auf Eigeninitiative der Anklagebehörde. Hinzu kommt, dass auch Vorermittlungen in einer Vielzahl von Regionen außerhalb Afrikas anhängig sind, wie etwa in Palästina, im Irak, in Kolumbien oder der Ukraine.
MS: Wann ist ein Verbrechen schlimm genug, dass Sie eingreifen?
C. Tarfusser: Das ist eine schwierige Frage, denn wir sind zuständig für Kernverbrechen des Völkerstrafrechts, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, oder, wie das Statut sie umschreibt, „die schwersten Verbrechen, welche die Internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“. Eine Schlüsselrolle für die Einordnung der Verbrechen in eine dieser drei Kategorien kommt den Begleitumständen dieser Verbrechen oder, wie wir sie heißen, den Kontextualelementen („contextual elements”), zu. Es sind sozusagen die kontextuellen Umstände, die den einzelnen Taten eine völkerrechtliche Dimension aufdrücken. Diese kontextuellen Umstände sind z. B. beim Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Systematik und Ausdehnung des Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und dessen „politische“ Zielsetzung. Bei Kriegsverbrechen ist der Kontext eben der Krieg, also ein bewaffneter Konflikt, ohne den es kein Kriegsverbrechen geben kann. Deshalb sind diese Verbrechen relativ komplex, weil sie vom Vorsatz her auf eine höhere Stufe gestellt werden. Der Massenmord in Norwegen z.B. ist kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im juristischen Sinne, obwohl es jeder so empfindet. Die Tat war die Aktion eines Wahnsinnigen, aber es ist keine Systematik dahinter zu sehen – kein systematischer oder ausgedehnter Angriff ̶ und somit ist es kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im juristischen Sinne.