Das Kreuz
Zeichen des Glaubens und der Hoffnung auf Auferstehung
Im Frühling 2021 von Waltraud Holzner
Beeindruckende Zeugen des Glaubens und der frommen Gesinnung der Menschen sind die vielen Kruzifixe und Bildstöcke, die vor allem im Ostalpenraum, insbesondere auch in Südtirol, anzutreffen sind. Leise gemahnen sie an die christlichen Inhalte des Osterfestes: an den qualvollen Tod des Heilandes, an sein Erlösungswerk, das Auferstehung und ewiges Leben verheißt.
Das Kreuz – ein archetypisches Symbol
Das Kreuz ist seit Urzeiten ein archetypisches Symbol göttlicher Weltordnung. Obwohl in verschiedener Weise interpretiert, ist dieses Zeichen weltweit in fast allen Kulturen bekannt. Aus Höhlenmalereien ist ersichtlich, dass schon für die Menschen der Steinzeit die Kreuzesfigur eine Art „Weltformel“ darstellte. Das Transzendente wird durch den senkrechten Balken symbolisiert, dieser trägt den waagrechten Balken, der das Irdische verkörpert. Der Schnittpunkt stellt die Vereinigung von Materiellem und Geistigem, also die Ganzheit des Lebens dar. Es ist ein holistisches, auf die Gesamtheit der Schöpfung abgesetztes Zeichen. Vom Achsenkreuz her empfängt alles und jedes seine symbolische Aufladung, ja sogar seinen existentiellen Rang. In vielen Kulturen wurde das Kreuz als Heilzeichen gewertet, so bedeutet zum Beispiel die altägyptische Kreuz-Hieroglyphe Ankh Leben und Wiedergeburt.
Durch den Kreuzestod Jesu erweitert sich die symbolische Dimension des Kreuzes: Für die Christenheit ist es Zeichen der göttlichen Liebe, der Erlösung von Sünde und Tod, der Schlüssel zum ewigen Leben. So waren das Kreuz und der Fisch die hervorragendsten Leitmotive der verfolgten Urchristen. 312 n. Chr. wurde durch den Sieg des von Visionen beeinflussten römischen Kaisers Konstantin I. über seinen Gegner Maxentius das Kreuz zum Siegeszeichen des Christengottes über den heidnischen Götterclan.
Schutz vor Hagel, Blitz und Sturm
Schon in Urzeiten scheint es Bannzeichen gegen Sturm und Unwetter gegeben zu haben. In christlicher Zeit wurden Wetterkreuze errichtet, die meist durch zwei oder drei Querbalken gekennzeichnet sind und keinen Christus-Corpus tragen. Auf exponierten Stellen ragen sie hoch in den Himmel, nichts Liebliches oder Tröstliches haftet ihnen an. Ernst und dunkel wehren sie mit ihren weiten Armen böse Geister und Dämonen ab. Im Gebirge wüten oftmals schwere Gewitter und in wenigen Minuten kann die Ernte von Hagel oder Sturm zerstört werden. Heute sieht man nur mehr wenige Getreidefelder, aber früher wurde auf den Sonnenhängen der Täler von den Bauern noch alle Brotfrucht für den Eigenbedarf selbst angebaut. Die Bitte eines Bergbauern im „Vater unser” um das tägliche Brot war und ist durchaus wörtlich zu nehmen. Wenn es blitzte, donnerte und stürmte, wurde in den Stuben der Rosenkranz gebetet. Mag sein, dass das heute nicht mehr allgemein Brauch ist, aber dennoch dürfte während heftiger Gewitter, wenn für die Apfelernte Gefahr besteht, so manches Gebet zum Himmel steigen.
Alpenländische Tradition oder Provokation?
Von den höchsten Erhebungen der Südtiroler Gebirgsketten ragen Gipfelkreuze zum Himmel empor als Dank an den Schöpfer für all die Herrlichkeiten der Natur und zum Gedenken an die Kameraden, die in den Bergen ihr Leben gelassen haben. Wer da oben steht, aller Sorgen und Nöte der Niederungen entrückt, fühlt sich frei und glücklich. Der mühsame Aufstieg nach oben ist mit dem steinigen Lebensweg vergleichbar, der, so hoffen wir, uns zu dem Einen, dem Ewigen führt, bei dem alle Wege enden. Allerdings sind die Gipfelkreuze zum Gegenstand von hitzigen Debatten geworden. Stellen sie eine religiöse Vereinnahmung der zum Allgemeingut zählenden Bergwelt dar? Sind sie gar provokanter Ausdruck von Lokalpatriotismus oder sind sie schlicht und einfach mit Tradition behaftete Zeichen alpenländischer Identität?
Wegkreuze
Im Mittelalter wurden Kreuze an Wegscheiden oder Gebietsgrenzen aufgestellt. Das waren oftmals unheimliche Orte, an denen es angeblich spukte und böse Mächte ihr Unwesen trieben. Auch der Galgen wurde manchmal an solchen Plätzen errichtet, vielleicht sollte den Seelen der Gehenkten noch die Möglichkeit gegeben werden, einen Weg zur Erlösung zu finden. Da aber dieser Weg keinesfalls zurück in die Stadt führen sollte, wurden die Galgen außerhalb der Stadtmauern aufgestellt. Alte Traminer können sich noch an die „Galgenwies” erinnern, ein brachliegendes Stück Land an der Gemeindegrenze zu Kaltern. Die Leute, die dort vorbeigingen, haben sich, eingedenk der schaurigen Bedeutung dieses Ortes, bekreuzigt. Heute ist dieses Fleckchen Erde kultiviert, und es wird nicht mehr als „Galgenwies” bezeichnet.
Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden die Verstorbenen daheim aufgebahrt. Es war gebräuchlich, auf dem oft langen Weg zum Friedhof den Sarg bei Wegkreuzen niederzustellen, um Ablassgebete zu sprechen. Bei dieser „Totenrast” sollte der Geist des Toten verwirrt werden, indem man die Bahre dreimal in verschiedene Richtungen anhob oder die Pferde dreimal anziehen ließ. Die Seelen der verstorbenen Angehörigen sollten sich, bei aller Zuneigung und Trauer, doch lieber nicht mehr in Haus und Hof umtun, sondern sich einen anderen Platz für ihre ewige Seligkeit aussuchen.
Die Mächte der Finsternis wollen den Erdenpilger mit allen Mitteln vom Pfad der Tugend abbringen und ihn auf Abwege locken. Deshalb sollten (und sollen immer noch) Wegkreuze den Wanderer an des Heilands Schutz und Güte erinnern und ihm als Hilfe dienen, sich für den rechten, guten Weg zu entscheiden.
Manchmal wurden Marterln und Kreuze auch aufgestellt, um ein Gelöbnis einzulösen, zum Beispiel aus Dank für die Errettung aus einer schwierigen Lebenssituation. Auch Votivtafeln, die ein Ereignis bildlich festhalten, wurden gerne gespendet. Mit einem Votivkreuz am Ritten verbindet sich folgende Geschichte:
Vor langer Zeit lebte am Bühlerhof in Unterinn ein Bauer, der sich für die Widumshäuserin interessierte. Eines Tages schlich er sich vor der Frühmesse in den Beichtstuhl, um die Beichte des Mädchens zu erlauschen. Diesen Frevel musste der von Gewissensbissen gepeinigte Bauer ein Leben lang büßen: Der Pfarrer legte ihm zur Sühne auf, er müsse einen Bildstock erbauen und nachts eine schwere, eiserne Kette am Leibe tragen. Vor ungefähr 100 Jahren soll dieses Folterwerkzeug mit den spitzen Dornen noch im Flur des Bühlerhofes gehangen haben, doch jetzt ist es leider verschollen.
(Diese Sage wurde der Autorin in Unterinn in verschiedenen Versionen erzählt. Die hier beschriebene stammt von der Ordensfrau Sr. Reinhilde Platter, Deutscher Orden, Bozen, die am Bühlerhof geboren und aufgewachsen ist. Das Wegkreuz wurde vor einigen Jahren renoviert und unweit seines ursprünglichen Standortes wieder aufgestellt.)
Sehr oft zeigen Wegkreuze und Bildstöcke, auch Marterlen genannt, die Stelle an, an der ein Mensch plötzlich vom Tod ereilt wurde. Meist werden die Vorübergehenden aufgefordert, für die Seele des Verstorbenen zu beten.
Kreuze und Bildstöcke wurden errichtet, um Gottes Segen für Haus und Flur zu erbitten. Oft befinden sie sich an den Außenmauern alter Bauernhöfe, an reizvollen Aussichtspunkten oder Plätzen, die zu Ruhe und Besinnung einladen. Außerordentlich beeindruckend wirken Kruzifixe in der hochalpinen Landschaft auf den Betrachter. Wurden sie doch von Menschen errichtet, die sich von dem leidenden Christus verstanden fühlten. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten herrschte in manchen Gegenden Südtirols große Armut und Not. Das schwere Leben der Gebirgsbewohner, ihre harte, gefahrvolle Arbeit und ihre Abhängigkeit von den Naturgewalten mag ein besonders inniges Bedürfnis nach Gottesnähe bewirkt haben.
Flurkreuze – weiterhin Vermittler der Osterbotschaft
Wir leben heute in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft. Im breiten, dicht besiedelten Trog des Etschtals sind die Wegkreuze etwas seltener geworden wie ehedem oder wie auch heute noch auf den Höhen und in den Gebirgstälern. Lebensweise und Brauchtum der Talbauern sind zwar noch immer in religiöser Gesinnung verankert, doch haben sich mit dem Fremdenverkehr und dem zunehmenden Wohlstand die vormals sehr strengen Sitten gelockert.
Sehr alte Wegkreuze sind selten zu finden, da Holz im Laufe der Jahre verwittert. Die wenigen noch erhaltenen Kruzifixe wurden, um sie vor Einflüssen des Wetters und Diebstahl zu bewahren, in häusliche Sicherheit gebracht. Aus dem 19. und 20. Jahrhundert sind aber noch viele Kreuze vorhanden, meist mit einem schmalen Dach versehen, damit der gepeinigte Jesus vor Sonne und Regen geschützt ist. In Südtirol kümmern sich die Heimatschutz-Vereine um die Erhaltung der Wegkreuze und Marterlen. Manchmal kommt es sogar vor, dass irgendwo ein neues Wegkreuz aufgestellt wird.
Inmitten herrlicher Naturkulissen, oftmals von Blumen umrankt, präsentieren sich die alten Wegkreuze, obwohl sie die grauenhafte Hinrichtung eines Menschen zeigen, als malerische Idylle. Vielleicht empfindet so mancher diese Zeichen des Glaubens und Gottvertrauens nur mehr als dekoratives Element in der Landschaft oder als Ausdruck naiver Denkungsweise. Aber es gibt noch Menschen, die grüßen im Vorbeigehen den, der da am Holz hängt und leidet. Oder welche, die pflücken ein paar Blumen vom Rand des Weges und stecken das Sträußlein ans Kreuz. Nur so, aus Liebe.
Quellen: Oswald Kofler, Wegkreuze, Athesia Verlag
Infos: Sr. Reinhilde Platter, Deutscher Orden, Bozen