Die Apfelfrau
Im Winter 2024 von Waltraud Holzner
Niemand wusste, wie sie wirklich hieß, man sprach von ihr nur von der
„Apfelmarie“. Sie hatte einen kleinen Stand am Hauptplatz, gleich neben dem Rathaus, gegenüber der Schule. Da stand sie an jedem Werktag unter einem blauen Schirm und verkaufte ihre Äpfel. In flachen Holzkisten hatte sie ihre Ware ausgelegt, die schönsten Äpfel weit und breit, rote, gelbe, grüne und gesprenkelte. Es waren aber nicht nur die schönsten Äpfel, sondern auch die saftigsten und süßesten, die besten, die ihr euch vorstellen könnt.
Warum die Apfelmarie aber von allen geschätzt und bewundert wurde, ist eine seltsame Geschichte.
Wir Kinder waren überzeugt, sie sei in Wirklichkeit eine gute Fee,
die sich, als Apfelweiblein verkleidet, in unserer Stadt aufhielt.
Die Marie hatte nämlich auf dem winzigen Tisch, auf dem auch die alte, rostige Geldkassette stand, ein kleines Strohkörbchen stehen und in dem Körbchen lag jeden Tag ein einzelner Apfel.
Wenn ihr meint, das sei nicht verwunderlich, wenn eine Apfelfrau zu ihren vielen Äpfeln noch einen mehr hätte, so muss ich euch sagen, dass dieser Apfel immer etwas Besonderes war. Von den hunderten, die da verlockend lagen, war dies immer der schönste, prächtigste, rotbackigste Apfel. Niemals verkaufte Marie diesen König aller Äpfel, es war vielmehr so, dass sie jeden Tag auf jemanden wartete, dem sie die besondere Frucht schenken konnte. Das geschah manchmal schon am Vormittag, während wir in der Schule waren und auf unserem Heimweg nur mehr das leere Körbchen sahen. War der Apfel aber noch da, so hatte jedes von uns Kindern die leise Hoffnung, diesen Apfel zu bekommen. Manchmal wurde es aber Abend, bis die von Marie auserwählte Person vorbeikam, für die an diesem Tag der Apfel bestimmt war.
Nun werdet ihr fragen, wer diese Menschen waren, die in den Genuss des köstlichen Geschenkes kamen. Und wenn ich‘s euch erzähle, werdet ihr verstehen, warum ich noch heute glaube, dass die Apfelmarie eine gute Fee war. Der Apfel gelangte nämlich immer in den Besitz eines Menschen, der sich an diesem Tag eine besondere Belohnung verdient hatte, oder aber des Trostes bedurfte. Wie die Apfelfrau herausfand, wem ihr Geschenk am meisten gebühre, ist mir bis heute ein Rätsel. Wie konnte sie von den Anstrengungen, von den guten Taten und von den Kümmernissen der Menschen wissen?
Manchmal waren es wohl Begebenheiten, die sich herumgesprochen hatten. Zum Beispiel, als Toni, der Feuerwehrmann, eine kranke Frau aus einem brennenden Haus geholt hatte. Der Bürgermeister hatte dem Retter zu seiner Heldentat gratuliert, aber noch stolzer war der Toni, als er an dem Obststand vorbeikam und Marie ihm freundlich lächelnd den Apfel aus dem Körbchen überreichte. Ja, diese Heldentat hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer im Ort verbreitet und es war also nichts Absonderliches, dass auch die Apfelfrau davon erfuhr. Aber wie, bitte, konnte sie wissen, dass die Gerda aus der 3. Klasse wieder einmal eine schlechte Note auf eine Rechen-Schularbeit bekommen hatte? Gerda war, obwohl sie immer sehr fleißig war und sich große Mühe gab, eine miserable Schülerin. Alles Lernen half nichts, in ihrem Kopf schienen sich alle Worte und Zahlen zu einem unlösbaren Knäuel zu verwirren. Trotzdem hatten wir alle die hilfsbereite, gutherzige Gerda gern und sie tat uns leid. Wieder einmal war sie sehr traurig und hatte Angst, denn von den Eltern erwartete sie Vorwürfe.
Natürlich war sie ganz erstaunt, als sie von Marie mit dem Apfel aus dem Körbchen getröstet wurde.
Oder woher sollte die Apfelfrau wissen, dass Benno, ein kleiner Junge aus der Nachbarschaft, sehr traurig war, weil sein Vater in eine andere Stadt gezogen war und nicht mehr nach Hause kam?
Einmal bekam der Herr Amtsdirektor die kostbare Frucht, weil er einem Mann noch nach Dienstschluss beim Ausfüllen eines Formulars behilflich gewesen war.