Die Stilfser-Joch- Hochalpenstraße
Historische Zwänge führten zu einem modernen „Weltwunder“ des Straßenbaus
Die Luft zum Atmen wird merklich dünner. Für den sportlichen Radler sind fast 50 Kehren auf der beliebten Stilfser-Joch-Hochalpenstraße von Spondinig-Prad im Südtiroler Vinschgau bis nach Bormio im Veltlin geschafft, der beträchtliche Anstieg beträgt genau 1.842 Höhenmeter. Jetzt folgen noch weitere 34 Kehren, die Strecke geht dann nur noch abwärts bis nach Bormio. Erstmal muss er aber verschnaufen, denn immerhin ist er jetzt auf einer Höhe von 2.757 Metern, dem Stilfser Joch; auf der Passhöhe gibt es endlich Zeit, die gewaltige Bergkulisse von fast 4.000 m hohen Berggipfeln zu betrachten. Über das Joch führt die höchste, 49 km lange Passstraße Italiens; bis vor wenigen Jahren war die Staatsstraße SS 38 auch die höchstgelegene Passüberquerung Europas. Es sind an schönen Sommertagen hunderte gleichgesinnte sportliche Radfahrer auf dieser Quälstrecke unterwegs.
Vor genau 200 Jahren, an eine Motorisierung dachte damals noch keiner, wurde die Straße nach nur einer einjährigen Vorplanung in fünf Jahren Bauzeit fertiggestellt. Die Trassensteigung musste sehr moderat sein, nur 7 % und in einigen Kehren maximal 15 %, damit Pferdewagen und auch im Winter Pferdeschlitten die Straße befahren konnten.
Nach dem Untergang Napoleons und den Folgen des Wiener Kongresses kam 1815 die Lombardei mit der ehemaligen Hauptstadt Mailand an die k. u. k.-Monarchie. Auf kaiserliche Anordnung wollte Österreich aus militärischen Gründen eine direkte und schnelle Verbindung von Wien über Innsbruck in die nach dem Wiener Kongress neu zur Habsburger-Monarchie gehörende Lombardei mit der wichtigen Handels- und Verwaltungsstadt Mailand anlegen.
Bereits 1818 legte eine Kommission die Vorplanungen für eine Trassenführung vor; diese fand in der Zeit vom 6. bis 9. Juni (!) des gleichen Jahres statt. Für Berliner Flughafen-Verhältnisse unglaublich. Es gab aber auch – anders als heute – keine Proteste der Bevölkerung in dem fast siedlungsleeren und -feindlichen Gebiet der Ortler Alpen. Die Forderung nach einer 5 m breiten Straße von Spondinig und Trafoi über das Stilfser Joch nach Bormio schien den späteren Vermessungsingenieuren in dem extrem aufsteigenden Gelände allerdings nicht realisierbar.
Wesentlich günstigere Verbindungen durch die neutrale Schweiz wollte die Eidgenossenschaft Österreich für militärische Zwecke nicht gewähren. An eine geplante territoriale Abtretung des Münstertales war nicht zu denken. Somit musste dennoch – das Unvorstellbare – in steilstem und unwegsamem Gelände gebaut werden. Fachleute sprechen von einem der modernen architektonischen Weltwunder, das uns auch heute noch in großes Staunen versetzt. Einzigartig ist die Bauausführung dieser Straßenanlage; im obereren Teilstück der Ostrampe verläuft die Trasse nahezu senkrecht übereinander gestaffelt, dieser Verlauf hat sich bis heute erhalten. Ein weiteres Problem ist uns in heutiger Zeit nahezu fremd geworden: Man befürchtete, dass das – Anfang des 19. Jahrhunderts – noch stattfindende Gletschervorrücken die Straße oberhalb von Trafoi gefährden könnte. Ein Phänomen, das andere Ortschaften in Hochalpentälern erlebten.
Mit der Planung und Ausführung wurde Carlo Donegani aus Brescia, ein bekannter italienischer Straßen- und Schiffskanalbaumeister, betraut. Der Baubeginn war im Sommer des Jahres 1820, die Fertigstellung und Einweihung der gewaltigen Straßenanlage fand schon im Oktober 1825 statt. Die effektive Bauzeit betrug wegen der Winterpausen weniger als 2 Jahre. Es arbeiteten bis zu 2.000 Arbeiter täglich an der Straße und dies z.T. auf einer Meereshöhe vom 3.000 Metern. Einem latenten Arbeitskräftemangel für diese schwierige Tätigkeit wurde in Bormio offiziell durch Androhung einer jahrzehntelangen bis lebenslangen Militärverpflichtung entgegengesteuert.
Die besonders stark lawinengefährdete
Ostrampe erforderte für den Winterbetrieb aufwändig zu bauende hölzerne Lawinenschutztunnel mit einer Gesamtlänge von etwa 3.500 m. Bis 1848 war die Passstraße tatsächlich auch im Winter geöffnet und konnte mit Pferdeschlitten befahren werden. Die sechs Tunnel oberhalb von Bormio, der Braulioschlucht, stellten für die damalige Zeit die größten bautechnischen Schwierigkeiten dar. Italiener verstanden bereits in dieser Zeit, Tunneldurchbrüche aus den Felsen herauszusprengen.
Für die gesamte Strecke wurden inklusive mehrerer Pferdewechsel 9 Stunden benötigt. Zweimal in der Woche fuhr neben dem täglichen Kuriertransport ein Frachtwagen von Mailand nach Innsbruck über Landeck und umgekehrt, grundsätzlich wurde dabei auf jeden Zwischenaufenthalt verzichtet; lediglich neun fest vorgeplante Pferdewechsel waren vorgesehen.
Für den laufenden Betrieb mussten ständig rund 500 Arbeiter die 2,70 m breite Straße pflegen und im Winter ständig vom Schnee befreien, um militärische Nachrichten per Schlitten in das österreichische Militärhauptquartier in Mailand zu Feldmarschall Radetzky zu bringen. Diese Straßenarbeiter wohnten gleich neben der Straße in einer der jeweils leicht rot angestrichenen Casa Cantoniera, die zum Teil bis heute noch stehen. Dies waren auch Pferdewechselstationen und Rast- und Übernachtungsstätten für Durchreisende.