Eine Südtiroler Attraktion - die Passeirer Gebirgsziege
Im Herbst 2014 von Waltraud Holzner
Das Passeiertal ist umsäumt von den hohen Bergen der Ötztaler-, Stubaier- und Sarntaler-Alpen. Der Ackerbau spielte in diesem Gebirgstal schon seit jeher eine untergeordnete Rolle, die Höfe sind auf Viehhaltung und Waldwirtschaft ausgerichtet. Die hervorragenden Futtereigenschaften der Almen und die schwer zugänglichen felsigen Gebiete eignen sich sehr gut für das Happvieh, also für Schafe und Ziegen.
Mit einer Gesamtausdehnung von 16.000 Hektar nehmen die 46 Almen fast die Hälfte der gesamten Talfläche ein. Die zwei größten Almen des Tales, namentlich die Gerichtsalmen Timmels (1.800 ha) und Lazins (1.600 ha), haben eine für Südtirol einmalige Sonderstellung. Sie sind Relikte eines uralten Almenverbandes und jeder Bauer im Tal, der sein Vieh mit eigenem Futter überwintert, hat das Recht, seine Tiere dort aufzutreiben.
Zwischen Anfang und Mitte Mai werden die Ziegen als erste Tiere auf die Alm getrieben und kommen als letzte, Ende Oktober oder Anfang November, wieder ins Tal. Um die Ziegenhaltung auf den Almen gibt es so manchen Streit. Die Ziegen fressen nämlich nicht nur Gras, sondern auch die frisch grünenden Baumwipfel und Blattsprossen. Die Förster freut das gar nicht und manche Bauern behaupten, die Ziegen fräßen das nach der Schneeschmelze im Hochgebirge noch spärliche Frühlingsgras ab, bevor die Kühe im Juni auf die Weide kämen. Die Ziegen bilden nämlich nicht geschlossene Herden wie Schafe, sondern laufen, wenn ungehütet, in losen, zerstreuten Herden umher. Viele Züchter haben keine eigenen Weiderechte und treiben einfach ihre Ziegen auf eine Alm, wo sie den Sommer verbringen. Die munteren Paarhufer klettern dort zwar am liebsten in steiles, felsiges Gebiet, dorthin wo Kühe gar nicht mehr hinkommen, aber dennoch wird die Anwesenheit der Tiere von manchem Besitzer als Störung empfunden.
Die Verteidigung der „Schneefluchtrechte” geht in Südtirol auf uralte Traditionen zurück. Urkunden aus dem Mittelalter geben davon Kunde, dass damals Wegrecht, Tränkrecht, Zaunrecht, Heuabfuhr, Hütung und Schneefluchtrecht streng geregelt waren.
... die Schaaf und Geiß sollent in das gepürg und ire gebürliche ort waiden und getriben und nit in den kuewaiden gewaidet werden ...
Der Verbiss an Ästen, Blättern und Wipfeln ist aber nicht unbedingt negativ zu bewerten. Die Pflanzen werden zwar in ihrer Entwicklung gehemmt, bilden aber vor allem im Steilgelände stärkere Wurzeln aus und sind dadurch den Anforderungen durch Rutschgefahr und Schneedruck besser gewachsen.
Nur wenige wissen es: Unter den vielen weltweit vorhandenen Ziegenarten bildet die „Passeirer Gebirgsziege“ eine eigene Rasse, die vorwiegend im Passeiertal gehalten wird. Schenkt man den heimischen Ziegenzüchtern Glauben, so sind „unsere“ Ziegen etwas ganz Besonderes: Es sind die edelsten, besten, gescheitesten, sie haben die schönsten Hörner und können am geschicktesten klettern. Aus all diesen Informationen sprechen die Zuneigung und der Stolz ihrer Besitzer.
Ursprünglich entstammt die Passeirer Gebirgsziege der „Pseirer Goaß“, die schon vor dem 1. Weltkrieg mit ungarischen Zagglziegen verpaart wurde und ihrerseits von der gonseten Schweizer Pfauenziege, von der strohleten Toggenburger Ziege und von der Bündner Strahlenziege abstammt. Jetzt gibt es von dieser offiziell registrierten Rasse ungefähr 8000 Tiere, die hauptsächlich in Südtirol gehalten werden.
Und wie sieht es aus, dieses besondere Tier? Bei Ausstellungen und Versteigerungen werden die Ziegen und Böcke einer fachkundigen Kommission vorgestellt und von dieser nach Klassen beurteilt.
Die Passeirer Ziege hat einen mittelgroßen Rahmen (äußeres Erscheinungsbild), ein breites Fundament (Gangbild), einen gestreckten, geraden Rücken, eine tiefe Brust und ein flaches, großes Becken. Die Ziege hat im Gegensatz zum Schaf keine Ramsnase, sondern ein „hohles“, konkaves Nasenbein, weite Nüstern, kurze Ohren und eine breite „Goschn“ (Maul). Weibliche Tiere erreichen rund 60 kg Lebendgewicht und werden 10 bis12 Jahre alt, ausgewachsene Böcke wiegen ungefähr 75 kg und haben eine Lebenserwartung von nur 5 bis 7 Jahren. Die Ziegenhörner sind leicht nach hinten geschwungen, der Bart ist beim Bock obligatorisch, jedoch auch bei den weiblichen Tieren erwünscht. Die „Mengelen“ oder „Mengiler” (es handelt sich um die hängenden Hautfalten hinterm Kehlgang) sollen gleich groß und in gleicher Höhe und Farbe sein. Beim Bock sind die Hoden und beim weiblichen Tier ist ein straffes und nicht zu großes Euter mit kompakten Zitzen von großer Wichtigkeit. Bei Ziegen und Böcken sollte das Fell kurzhaarig (borschtig) sein. Die Farbausprägung bei den „Stutzen” (Beinen) sollte paarweise immer gleich sein.
Die Züchter müssen sich an sehr strenge Bewertungskriterien halten. Die Passeirer unterscheiden ihre Ziegen nach einer Unzahl von Farbschattierungen, aber grundsätzlich nach 3 Typen: „gonset”, „strohlet” und einfärbig. Das Fell einer gonseten Ziege ist hinten dunkel und vorne hell, die Stutzen sind bei gonseten Ziegen immer dunkel gestiefelt. Strohlete Ziegen weisen am Kopf ein Strahlenmuster auf und haben helle Stutzen. Einfarbige Ziegen müssen vom Kopf bis zur Schwanzspitze gleich ausgefärbt sein, nur Strahlen oder ein Stern am Kopf sind erlaubt. Der Aalstrich am Rücken muss durchgehen, kann aber auch heller und stichelhaarig sein. Ein dunkler Strich vom Knie bis zur Klaue ist gestattet, weiß dürfen die Bauchunterseite und die Füße bis zum Knie sein. Auch die Haut der Lippe kann weiß sein, aber nicht erwünscht sind weiße Haare an den Lippen oder weiße Flecken. Um mit der Leistungsklasse 1 bewertet zu werden, muss eine Ziege im Alter von zwei Jahren einmal gekitzt haben. Das sind längst nicht alle Bewertungskriterien, die für die Tiere angewandt werden.