Gedenktafel in der Naif erinnert an Kronprinz Rudolf
Im Herbst 2020 von Dr. Walter Egger
Hoch oben am schwer zugänglichen Steilhang – nahe der Einsiedlkapelle in der Naif – war sie früher angebracht, die nunmehr 130 Jahre alte Gedenktafel für Kronprinz Rudolf, bis ein Felssturz sie vor zwei Jahren mit in die Tiefe und in mehrere Stücke riss. Auf Betreiben des Heimatpflegevereins Obermais ließ die Stadtgemeinde Meran die Fragmente der Marmortafel kunstgerecht vom Steinmetz zusammenfügen und in einem Metallrahmen gefasst am Wegrand unterhalb der Absturzstelle neu anbringen.
Die Tafel erinnert an den einzigen Sohn und ersehnten Thronfolger von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth, der im Jahr 1871 in Meran „anwesend“ war. Als 13-jähriger Junge verbrachte Rudolf nämlich die Karwoche und die Ostertage in der Nähe seiner Mutter, Kaiserin „Sisi“, die während der Wintersaison 1870/71 bekanntlich mit ihren Töchtern Gisela und Valerie auf Schloss Trauttmansdorff residierte. Für den über 100 Personen zählenden Hofstaat der Kaiserin hatte man zudem die Ansitze Rametz, Rubein, Pienzenau und die Villa Stadlerhof (heute Villa Semler/Tinzl) angemietet. Der Kronprinz war am 1. April zusammen mit seinem Vater bis Bozen im Zug und von dort im Kutschenwagen angereist und hatte in Schloss Rametz das für ihn reservierte Zimmer bezogen. Das Schlossgut war damals in Besitz von Friedrich Boscarolli (1843-1908), zugleich Oberschützenmeister des Hauptschießstandes in Meran.
1871 – Kronprinz Rudolf in Meran
Man kann sich vorstellen, dass es für Meran und Mais ein einmaliges Ereignis und zugleich eine unbezahlbare Werbung für den aufstrebenden Kurort war, als das Kaiserpaar mit seinen drei Kindern hier 1871 die Karwoche und die Ostertage verbrachte, worüber die lokale Presse auch laufend berichtete.
Die kaiserliche Familie, freilich ohne die knapp dreijährige Valerie, nahm an den kirchlichen Feierlichkeiten der Karwoche in der Stadtpfarrkirche teil, wobei sie zuweilen auch gemeinsam zur Kirche fuhr. So auch am Gründonnerstag, an dem der Kaiser mit Sohn Rudolf den Rücksitz des offenen Hofwagens, die Kaiserin mit Tochter Gisela den Vordersitz eingenommen hatten und somit dem zahlreichen Publikum Gelegenheit boten, „sich des Gesamtanblickes der geliebten Herrscherfamilie mit Ausnahme der Erzherzogin Valerie erfreuen zu können“. Rudolf zog die Aufmerksamkeit auf sich, indem er die grüßenden Zurufe durch „fortwährende Abnahme des Zylinders erwiderte“.
Weiters wird berichtet, dass der Kronprinz täglich längere Ausflüge unternahm und im Laufe der Woche sämtliche „hübschen Partien der Umgebung“ besucht hatte. „Wären die Berghöhen nicht noch verschneit, würden wahrscheinlich einige derselben von ihm erstiegen werden“, so schwärmte die Meraner Zeitung.
Dem kirchlichen Osterfest folgte als weltliches Fest ein siebentägiges, vom Kaiser gespendetes Freischießen am k. k. Hauptschießstand in Meran, das am Ostermontag vom Kaiser selbst in Beisein der Kaiserin, des Kronprinzen und der Erzherzogin Gisela eröffnet wurde. Am Festzug sollen rund 1.500 Schützen und 11 Musikkapellen mitgewirkt haben. Der Ostermontag schloss mit einem grandiosen Fackelzug nach Schloss Trauttmansdorff und glanzvollen Aufführungen in der Schlosswiese. Rote und weiße bengalische Feuer beleuchteten abwechselnd das Schloss und die Umgebung. Oberschützenmeister Friedrich Boscarolli wurde wegen seiner Verdienste ums Schützenwesen vom Kaiser zum Hauptmann der Landesschützen ernannt und dem Bataillon Oberetschtal Nr. 4 in Meran zugeordnet.
Am Osterdienstag, 11. April, beteiligte sich der Kronprinz noch an der Eröffnung des Freischießens in Schenna, bevor er gegen Abend zusammen mit seiner Schwester Gisela Meran verließ, um direkt nach Wien zu reisen, wo die beiden tags darauf um 2 Uhr nachmittags eintreffen würden.
Peinliches Missgeschick
Mancher mag sich wundern, dass die Marmortafel, die an Rudolfs Aufenthalt in Meran 1871 erinnert, im abgelegenen Naiftal und zudem an einer so schwer zugänglichen Stelle am Berghang angebracht wurde. Der Grund liegt in einem Missgeschick, das dem Kronprinzen hier während seines damaligen Aufenthaltes in Meran widerfuhr. Als er sich am Ostersonntag, begleitet von seinem bejahrten Hauslehrer, zu einem Ausflug ins Naiftal aufgemacht hatte, verstiegen sich die beiden nahe der Einsiedlkapelle im abschüssigen Gelände derart, dass sie weder vorwärts noch rückwärts zu gehen wagten, worauf die Kiendlbäuerin Katharina Winkler, die ihre Hilferufe gehört hatte, sie von der schwindelerregenden Höhe auf den sicheren Weg zurückführte. Der ältere Herr bat um Stillschweigen über den Vorfall, doch im engeren Kreise der Einheimischen dürfte die Identität des Kronprinzen nicht lange ein Geheimnis geblieben sein. Die Presse hingegen schwieg darüber, einmal sicher aus Respekt vor dem Kaiserhaus, zum andern aber auch deswegen, weil das eher peinliche Ereignis ganz und gar nicht zum forschen Bild des Kronprinzen gepasst hätte, das sie während seiner Ferientage in Meran mehrmals überschwänglich von ihm gezeichnet hatte.
Erst 18 Jahre später, nach Rudolfs tragischem Tod in der Nacht zum 30. Jänner 1889, brach die Meraner Zeitung erstmals das Schweigen, indem sie berichtete, dass an der Stelle in der Naif, wo der junge Kronprinz 1871 von der Kiendl-Bäuerin aus seiner misslichen Situation befreit wurde, das hiesige Offizierscorps der Landesschützen ein Holzkreuz zu seinem Gedächtnis angebracht hatte.
1889 – Feierliche Enthüllung der Gedenktafel
Anstelle des provisorischen Holzkreuzes ließ das Offizierscorps bald danach eine in Laas angefertigte Marmortafel von beträchtlicher Größe anbringen, die am 3. August 1889 feierlich enthüllt wurde. Zu diesem Anlass wurde um 9 Uhr bei der Naifkapelle eine Feldmesse zelebriert, an der die Spitzen der politischen Behörden, das k. k. Offizierscorps mit dem Kommandanten Major Alois Ritter von Tschusi zu Schmidhoffen, sämtliche in Meran stationierte Landesschützen, Vertreter der Gemeinden von Ober- und Untermais und zahlreiche Andächtige teilnahmen. Nachher war Militärparade vor dem Erinnerungsmonument und mittags Festtafel im Hotel Haßfurther in Steinach (später Hotel Cremona Ritz). Jährlich am 17. April, dem Namenstag des Kronprinzen, ließen die Landesschützen in der Naifkapelle eine Gedenkmesse feiern.
Das Landesschützen-Bataillon Oberetschtal Nr. 4
Die Geburtsstunde der Landesschützen-Bataillone schlug, als Ende 1870 die Landesverteidigung in Tirol und Vorarlberg gesetzlich neu geregelt wurde. Die historischen, besonders seit 1809 bekannten Landesschützen und der Landsturm wurden nun dem k. k. Heer eingegliedert und bildeten seitdem „einen integrierenden Teil der bewaffneten Macht“. Diese neuen Landesschützen formierten zehn Bataillone, die jeweils nach dem Landesteil, aus dem sie sich größtenteils ergänzten, benannt wurden: 1. Unterinntal, 2. Innsbruck und Wipptal, 3. Oberinntal, 4. Oberetschtal, 5. Etsch- und Fleimstal, 6. Pustertal, 7. Noce und Avisio, 8. Trient und Valsugana, 9. Rovereto und Sarca und 10. Vorarlberg. Ein Bataillon bestand aus vier Kompanien und einer Ergänzungskompanie. Kommandiert und einexerziert wurde es von 28 Offizieren der regulären Armee, vorzugsweise von Offizieren, die bei den Tiroler Kaiserjägern gedient hatten.
Garnisonsstadt des Landesschützenbataillons Oberetschtal Nr. 4 war Meran. Nachdem man sich mehr als zehn Jahre lang nur mit provisorischen Unterkünften hatte begnügen müssen, ließ die Stadtgemeinde 1882 um 90.000 Gulden eine eigene Landesschützenkaserne in der heutigen Otto-Huber-Straße errichten (nun Sitz der italienischen Grundschule „Floriano Deflorian“).
In Anlehnung an den alten Schützenrock trugen die Landesschützen zunächst eine dunkelbraune Joppe sowie graue Hosen, bis sie diese schmucklose Uniform 1889 mit einer eleganteren in hechtgrauer Farbe, ähnlich jener der Kaiserjäger, vertauschten. Als einzige Truppe bekamen sie von Anfang an zur Feldmütze den Spielhahnstoß. Im Jahr 1917, also während des Weltkrieges, verlieh ihnen Kaiser Karl die ehrende Bezeichnung „Kaiserschützen“.
Bei der jährlichen Musterung wurde eine gewisse Anzahl wehrtauglicher Männer im Alter von 20-21 Jahren entweder zu den Tiroler Kaiserjägern mit dreijährigem ununterbrochenen Militärdienst oder zu den Landesschützen einberufen, deren zeitlich befristete, doch in bestimmten Abständen wiederkehrende Dienstleistung sich insgesamt auf zwölf Jahre erstreckte. Im ersten Dienstjahr wurden die Mannschaften acht Wochen lang ausgebildet. In den darauffolgenden sechs Jahren waren sie zu Waffenübungen verpflichtet, die nach der Ernte stattfanden und 14 Tage dauerten. Zu den periodischen Pflichten, wenigstens zweimal jährlich, zählten zudem Scheibenschießübungen, die die Schützen nicht länger als je einen Tag von der Arbeit fernhalten sollten, um deren Erwerbstätigkeit möglichst zu schonen.
Der k. k. Schießstand in der Naif
Um der Meraner Garnison die nötigen Schießübungen zu ermöglichen, musste in der Umgebung eine geeignete Schießstätte gefunden werden, die einen absolut sicheren Kugelfang garantierte. Ein solcher Platz, wie von der Natur dazu geschaffen, fand sich am Eingang des menschenleeren Naiftales, dort wo die Niederlassungen aufhörten und kein Verbindungsweg mehr die Schießbahn queren würde. Friedrich Boscarolli auf Rametz, frisch ernannter Hauptmann im Bataillon Oberetschtal Nr. 4, mag bei der Suche behilflich gewesen sein. Es scheint, dass bereits 1871, also schon im ersten Jahr des Bestehens der Garnison in Meran, Schießübungen in der Naif stattgefunden haben. Zu diesem Zweck schloss die k. k. Militärbehörde mit der Gemeinde Obermais und den betroffenen Grundbesitzern einen Pachtvertrag für die Dauer von zehn Jahren ab, der 1881, 1891, 1901, 1911 jeweils um weitere zehn Jahre verlängert wurde, wobei der Pachtzins anfangs 100 Gulden und zuletzt 2.180 Kronen betrug.
Die Schusslinie verlief über den Naifbach hinweg, vom Schießstand am rechten Bachufer hin zum linken, wo sich die Scheibenstände, Fangdämme und Zielerdeckungen befanden. Das ursprüngliche k. k. Schießstandsgebäude ist längst verschwunden. Die Frage, wann genau es aufgelassen und durch den heute noch erhaltenen, aber ebenfalls schon längst dem Verfall preisgegebenen Bau am anderen Naifufer ersetzt wurde, konnte bislang nicht geklärt werden.
Laute Betriebsamkeit
War die Marienkapelle bis 1870 bloß einsames Ziel frommer Wallfahrer und einiger Sonntagsausflügler aus dem Burggrafenamt gewesen, so kam mit den Landesschützen laute Betriebsamkeit in den bisher stillen Winkel des Naiftales. Der Messner Josef Weithaler, vulgo Kübelmilchsepp, musste sich wohl oder übel an den Knall der Gewehrschüsse gewöhnen, die regelmäßig am Dienstag und Freitag vom nahen Militärschießstand herüberschallten. Zudem wurde zu Zeiten der Rekrutenausbildung und herbstlichen Waffenübungen an drei oder gar vier Wochentagen geschossen, und zwar mit den neuen Hinterlader-Gewehren, die nun die alten, umständlich zu handhabenden Vorderlader ersetzten. Mit dem aufkommenden Fremdenverkehr entdeckten auch mehr und mehr Touristen die Naif als naturnahes Ausflugsziel. An primitiven Tischen vor dem Kirchlein wurden den Besuchern Getränke gereicht, bis der Säge- und Mühlenbauer Mathias Dekas auf seinem 1898 gepachteten Grund zwischen dem k. k. Schießstand und der Metznersäge das „Gasthaus zum Einsiedler“ eröffnete, das sich jahrzehntelang großer Beliebtheit bei Einheimischen und Gästen erfreuen sollte.
Die nunmehr am Wegrand stehende Gedenktafel aus dem Jahr 1889 erinnert in großen Lettern an den Kronprinzen Rudolf, zugleich jedoch – zwar weniger auffallend – an die mittlerweile vergessenen Landesschützen des Bataillons Oberetschtal Nr. 4 in Meran, dessen Geschichte von 1871 bis 1918 mit der Naif eng verbunden ist.