Ich liebe dich gewaltig
Frauen gegen Gewalt
Im Herbst 2019 von Eva Pföstl
Alexandra Riffeser, Rita Pissarotti, Nicoleta Caciula und Monika Gruber – das sind die Namen der vier Frauen, die im Laufe des Jahres 2018 in Südtirol häuslicher Gewalt zum Opfer gefallen sind. Drei von ihnen wurden vom Ehemann getötet und Nicoleta Caciula von ihrem Neffen.
Italienweit wurden in den vergangenen vier Jahren 600 Frauen ermordet. Seit dem Jahr 2000 waren es über 3.100 Frauenmorde, also ca. 38 % aller im Land begangenen Mordfälle. Das sind drei Frauenmorde pro Woche.
72 % von ihnen wurden von einem Angehörigen, einem Ehemann oder Ex-Partner getötet. Auch in Südtirol nimmt die Gewalt gegen Frauen nicht ab: Die Ergebnisse der ASTAT-Erhebung 2018 zu den Frauenhäusern und den Kontaktstellen gegen Gewalt zeigen ein ähnliches Bild wie im Vorjahr. Die Dunkelziffer dürfte aber weit über den mehr als 500 gemeldeten Fällen liegen. Es wird geschätzt, dass sich nur 1 von 20 Frauen, die Opfer von Gewalt werden, an eine Kontaktstelle gegen Gewalt des Landes wendet. Aus Scham und Angst trauen sich viele Gewaltopfer nicht, ihre Täter anzuzeigen oder gar mit ihrer persönlichen Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.
Die meiste Gewalt gegen Frauen findet immer noch im sozialen Nahbereich statt. Das heißt, in den eigenen vier Wänden sind die Frauen – oft ungeschützt – der Gewalt von Partnern ausgesetzt. Hier gilt der Auftrag, nicht wegzuschauen und alle zu ermutigen, nicht zu schweigen bzw. ihr Schweigen zu brechen. Niemand muss oder soll Gewalt aushalten.
1. Südtiroler Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen in Meran
Im Jahr 1989 hat die Provinz Bozen als Vorreiterin in Italien das Landesgesetz zur Errichtung der Frauenhäuser verabschiedet. Frauenhäuser bieten Frauen und ihren Kindern, die Gewalt erfahren, Schutz und Sicherheit. Insgesamt gibt es in Südtirol vier Beratungsstellen für Frauen in Gewaltsituationen, nämlich in Meran, Bozen, Brixen und Bruneck, und fünf Aufnahmeinrichtungen mit insgesamt 39 Wohnungen.
Die Beratungsstelle gegen Gewalt wurde in Meran im Jahr 1993 eröffnet und wird seither vom Verein „Donne contro la violenza – Frauen gegen Gewalt“ im Auftrag der Bezirksgemeinschaft Burggrafenamt geführt. Der Verein wurde 1988 von deutsch- und italienischsprachigen Frauen mit unterschiedlichen persönlichen, kulturellen, beruflichen und politischen Erfahrungen gegründet. Zielsetzung war, sich mit dem Phänomen Gewalt an Frauen auseinanderzusetzen und Initiativen gegen Gewalt an Frauen zu ergreifen. Der gemeinnützige, überparteiliche und unkonfessionelle Verein, der sich im Feminismus verankert sieht, arbeitete in den Jahren 1990 bis 1993 ein Konzept aus für die Führung der ersten Südtiroler Gewaltschutzeinrichtung, welche in Meran eingerichtet werden sollte.
Wir treffen Sara Bagozzi, Vereinsfrau und langjährige Mitarbeiterin, und Sabine Ruedl, Präsidentin des Vereins „Frauen gegen Gewalt“, zu einem Gespräch.
MS: Was versteht man unter Gewalt gegen Frauen?
S. Ruedl: Unter Gewalt gegen Frauen versteht man alle Formen von Gewalthandlungen, die Frauen auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit erfahren und durch die ihnen körperlich, sexuell, psychisch und/oder ökonomisch Schaden oder Leid zugefügt wird. Gewalt gegen Frauen ist immer ein Ausdruck für das Machtungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Die Lebensumstände können verschieden sein, aber Gewalt kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor, völlig unabhängig von Alter, Einkommen, Bildungsstand, Glaube, Kultur und gesellschaftlichem Status. Gewalt kann junge Paare ebenso betreffen wie langjährige Lebensgefährten, sie kann in krisengeschüttelten Beziehungen eine Rolle spielen oder in scheinbar harmonischen Partnerschaften, sie trifft selbstbewusste ebenso wie zurückhaltende Menschen. Trotz zahlreicher Besonderheiten im Einzelfall gibt es ein typisches Kennzeichen: Die Gewalt findet in der Regel ohne Zeugen statt. Und sie bleibt deshalb lange unentdeckt und die betroffenen Frauen sind häufig allein mit ihrer Situation.
MS: Welche Form von Gewalt bringt Frauen am häufigsten dazu, sich an eine Beratungsstelle zu wenden?
S. Bagozzi: Am häufigsten wenden sich jene Frauen an die Beratungsstellen des Landes, die von Beziehungsgewalt betroffen sind. D.h. der Gewalttäter ist der Partner oder Ehemann oder Ex-Partner oder Ex-Ehemann. 2018 war das von den insgesamt 153 Frauen, die sich an die Meraner Beratungsstelle gewandt haben, bei 84 % der Fall. In 12 % der Fälle waren Familienangehörige oder Bekannte die Gewalttäter und nur in 4 % waren es den Frauen unbekannte Täter.
MS: Laut Statistik nimmt die häusliche Gewalt zu. Spüren Sie das bei Ihrer Arbeit in der Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen?
S. Bagozzi: Die Gewalt gegen Frauen ist nicht rückläufig und weist auch weiterhin dieselben Merkmale wie in der Vergangenheit auf: Die meisten Opfer fallen in die mittleren Altersklassen (30- bis 49-Jährige) und der Täter ist fast immer der Partner. An die Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen wenden sich jährlich ungefähr 100 Frauen zum ersten Mal, neben jenen Frauen, die bereits seit früheren Jahren mit der Beratungsstelle in Kontakt sind. Seit der Gründung der Beratungsstelle in Meran im Jahr 1993 haben sich 2.580 Frauen an uns gewandt. Allein im letzten Jahr waren es 153 Frauen. 26 Frauen haben wir im Frauenhaus aufgenommen.
MS: Was hat sich in Ihrer Arbeit in den letzten Jahren am meisten verändert?
S. Ruedl: Mit den Jahren, begründet in der Zunahme der Migrationsbewegungen in Südtirol, hat die Kontaktaufnahme von Frauen mit Migrationshintergrund und Flüchtlingsfrauen zugenommen und es war uns ein Anliegen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Das bedeutet, dass wir uns in den Jahren spezifisch weitergebildet und die Zusammenarbeit mit Kulturmediatorinnen sowie generell die Zusammenarbeit mit den spezifischen Diensten und Vereinigungen des Landes intensiviert und unser Informationsmaterial mehrsprachig gestaltet haben. Im letzten Jahr haben wir beispielsweise eine Informationskampagne in Meran außer auf Deutsch und Italienisch auch auf Französisch, Englisch, Serbokroatisch und Arabisch gestaltet. Trotz kultureller Unterschiede können wir immer wieder beobachten, dass sich die Gewalterfahrungen und der damit verbundene Leidensdruck interkulturell sehr ähnlich sind, unterschiedlich sind die jeweiligen persönlichen Ressourcen der Frauen und bei Frauen mit Migrationshintergrund fehlen häufiger die Unterstützung von Seiten der Familie und der Bekannten sowie eine gesicherte Existenz. Zugenommen haben mit den Jahren auch die Kontaktaufnahmen von jungen Frauen der zweiten Generation, die sich von ihrer Ursprungsfamilie entfernen müssen, weil sie beispielsweise zu einer ungewollten Heirat gezwungen werden oder sich nicht mit den kulturellen Vorgaben des Herkunftslandes der Eltern identifizieren können und sich diesen nicht unterwerfen möchten.
MS: Wie hat die Digitalisierung Ihre Arbeit verändert?
S. Bagozzi: Gewalt an Frauen hat sehr viel mit Macht und Kontrolle zu tun. Die Gewalttäter wollen das Leben der Partnerinnen vollkommen kontrollieren, ein Abhängigkeitsverhältnis erzwingen und aufrechterhalten. Dies wurde mit den Jahren durch technische Entwicklungen, wie das Aufkommen der Smartphones und die wachsende Verwendung von sozialen Medien und Plattformen deutlich erleichtert. Die neuen Medien und technischen Hilfsmittel, wie Spionage Apps, werden dazu missbraucht, um das Leben der Partnerin zu kontrollieren, ihr das Gefühl zu vermitteln, in der Gewaltbeziehung gefangen zu sein. Wir mussten uns daher in diesen Bereichen Wissen aneignen und mit Experteninnen zusammenarbeiten. Ein bewusster und gesicherter Umgang mit den neuen Medien ist das Ziel.
MS: Scham- und Schuldgefühle halten viele Betroffene davon ab, sich jemandem anzuvertrauen. Was kann die Gesellschaft dazu beitragen, dass sich dies ändert?
S. Ruedl: Es ist wesentlich, dass gesellschaftlich ein deutliches Nein zur Gewaltanwendung vermittelt wird. Immer noch zu häufig wird Gewalt verharmlost und entschuldigt. Viel zu häufig wird die Frage gestellt „Ja was hast du denn gemacht, dass er so reagiert hat?“ Es wird nach einem Grund für die Gewaltanwendung gesucht, dadurch wird von der Tat abgelenkt und diese wird indirekt entschuldigt. Dies passiert den Frauen und sie erzählen uns davon, wenn sie versuchen, mit jemandem über ihre Situation zu sprechen und es passiert auch in der öffentlichen Debatte und in den Medien. Gewaltanwendung ist nicht zu entschuldigen, die Verantwortung liegt allein beim Täter, diese Mitteilung muss im Vordergrund stehen.