Krippe, Karpfen, Kinderträume
Lesezeit: 5 minIm Winter 2022 von Waltraud Holzner
In der Weihnachtszeit pflegen die meisten Familien eigene Bräuche und Rituale, die alljährlich als verlässliche Quelle der Freude oder auch des Missfallens betrachtet werden.
Zum Beispiel die von Urgroßmutter bestickte Decke. Jedes Jahr wird sie am ersten Adventsonntag über die alte Truhe gebreitet und der Adventkranz daraufgelegt, ein Augenschmaus, der die allgemeine Erwartung bestätigt. Anderseits Tante Finis Feigenbrot. Auch dieses trifft am ersten Adventsonntag samt der Tante ein und bestätigt die allgemeine Vermutung: Das Brot schmeckt fad und ist aschtrocken, ganz wie die Tante. Und doch, wenn einmal die alte Fini keinen Feigenwecken mehr bringen und mit ihrem Rezept die himmlischen Heerscharen beglücken wird, dann, glaubt mir, wird dieser Familie etwas fehlen.
In meinem Elternhaus waren die Bräuche stark von der religiösen Denkungsweise meiner Mutter geprägt. Täglich wurden am Abend die Lichter des Adventkranzes angezündet und lange Gebete verrichtet. Jetzt ahne ich, warum mein Vater im Dezember oft erst beim abschließenden Tauet-Himmel-dem-Gerechten-Singen nach Hause kam. Wir Kinder legten den Text des Liedes auf unsere Weise aus, wenn es hieß:
Doch der Vater ließ sich rühren, dass er uns zu retten sann,
um den Ratschluss auszuführen, trug der Sohn sich freudig an.
Wenn wir die Wohnungstüre zufallen hörten, brachte mein Bruder eilig dem Vater, der uns zu retten sann, die Pantoffeln.
Gerne hätte ich beim Keksbacken mitgeholfen, jedoch wurden in der Küche meine Fähigkeiten geringgeachtet. Aber ich durfte meinem Vater beim Schmücken des Christbaumes helfen. Er stand oben auf der Leiter und ich musste ihm den gebündelten Schmuck hinaufreichen. Wenn etwas nicht gleich richtig hängen wollte oder sich die Fäden verheddert hatten, donnerte er: „So ein Schmarrn! Scheißdreck!”
Während der Christbaum geschmückt wurde, bereitete meine Mutter das nebenliegende Speisezimmer auf das Fest vor. Durch ein Gitter, das sich hinter dem Ofen befand, konnte sie Papas lautes Gefluche hören. Empört reagierte sie: „Wie kann man in dieser heiligen Zeit so abscheulich fluchen. Das hätte es bei meinem Vater nicht gegeben!“
Mit solchen Worten bewirkte sie eine Kompression von Papas Zorn. Von nun an fluchte er nur mehr leise „Scheißdreck, Scheißdreck!”, aber das war sehr furchterregend und er kam mir vor wie ein Dampfkessel, der jeden Moment explodieren könnte.
Endlich war der Baum fertig geschmückt. Vaters Zorn auf widerspenstige Äste und dünne Fäden war verraucht und Beifall heischend sah er auf die Mama, die ihm ihr sprödes Lob nicht versagte: „So schön wie heuer war der Baum noch nie!” Sie sage das jedes Jahr, und es stimmte immer.
Ja, so kam endlich der 24. Dezember.