Mondliebe
Im Winter 2019 von Waltraud Holzner
Wenn meine Überlegungen stimmen, kommt es selten vor, dass am 24. Dezember Vollmond ist. Aber es war an einem solchen vollmondbeschienenen Heiligen Abend, als Oma und ich, in warme Decken gehüllt, draußen auf der Bank neben unserer Haustüre saßen, während drinnen noch die letzten Vorbereitungen für das Fest getroffen wurden. Damals erfuhr ich ein wichtiges Detail unserer Familiengeschichte.
Es ist schon eine Weile her, seit die ersten Astronauten, es waren Amerikaner, auf dem Mond landeten. Sie wirbelten dort eine Menge Staub auf, hissten das Sternenbanner, nahmen ein paar Steine mit und zischten dann mit ihrer Rakete wieder retour zur Erde. Diese Mondlandung war völlig widerrechtlich. Der Mond ist nämlich seit über sechzig Jahren in Familienbesitz, genauer gesagt, er gehört meiner Oma.
Oma ist bescheiden. Sie hängt es nicht an die große Glocke, dass sie über einen derart exorbitanten Besitz verfügt. Als ich ihr Fragen stellte, sagte sie nur: „Macht nichts! Lass sie nur landen und graben, die Amis, die Russen und wer sonst noch kommt. Sie alle werden immer nur öde Plätze vorfinden und somit eine ganz falsche Vorstellung von den Landschaften des Mondes haben. Die sind nämlich wunderbar und fantastisch, aber das weiß
anscheinend niemand außer mir.“
Natürlich ließ mir das keine Ruhe. Wie konnte Oma behaupten, sie wisse, dass es auf dem Mond wunderbare Landschaften gebe? Ich quälte sie so lange mit Fragen, bis sie mir ihr Geheimnis preisgab. Sie räusperte sich und erzählte:
„Vor sechzig Jahren, als ich noch ein Kind war, war unser Dorf noch ein verschlafenes Nest. Mittlerweile hat sich die Einwohnerzahl verdreifacht. Auch an Stelle unseres Nachbargebäudes steht seit vierzig Jahren eine große Werkhalle, in der tagsüber viel Lärm gemacht wird. Hinter unserem Haus befand sich eine Wiese, an die ein dichter Wald grenzte. Heute ist dieses Gebiet verbaut und nur die alten Fotos erinnern daran, wie es damals ausgesehen hat. Der Verlust dieser kleinen Wiese am Waldesrand war für mich sehr traurig. Sie war nämlich mein Cape Canaveral.“
„Oma, Cape Canaveral! Dort ist doch die amerikanische Raketenabschussbasis!“, unterbrach ich Oma.
„Ja, ja, hör nur zu!“, sagte Oma und setzte ihre Erzählung fort.
„In der Nachbarschaft waren viele Kinder und wir spielten täglich miteinander. Auf der Wiese, im Wald und auch in den umliegenden Häusern. In unserer Fantasiewelt erlebten wir die tollsten Abenteuer. Die Buben waren kühne Piraten, tapfere Ritter oder wilde Indianer. Wir Mädchen waren wunderschöne Prinzessinnen oder unterstützten die tapferen Kämpfer, indem wir zum Beispiel aus dem, was der Boden hergab, also Sand und Gras, eine rohköstliche Mahlzeit herstellten. Die Ideen gingen uns nie aus.
Am besten verstand ich mich mit Jakob aus dem Nachbarhaus. Ich war fast gleich alt wie er und so gingen wir zusammen in die Schule und machten miteinander die Hausaufgaben. Es hört sich unglaublich an, aber ich war schon als kleines Kind in Jakob verliebt.
Ich kann mich noch genau erinnern, es war in den großen Ferien nach der 1. Klasse Grundschule, da spielten wir „Hochzeit“. Als Brautpaar wurden Jakob und ich auserwählt, das war ganz selbstverständlich. Rudi, der Bruder von Jakob, spielte den Herrn Pfarrer, die lange, dünne Evi war die Brautmutter und wir hatten auch zwei Trauzeugen: den Hansi Huber und den Berti Fischer. Die jüngsten Mädchen waren Brautjungfern. Ich war zu diesem feierlichen Anlass mit einem geblümten Nachthemd bekleidet. Meinen Kopf zierte ein Kränzlein aus Löwenzahnblüten und ein langer Schleier, der, als er noch keine Löcher hatte, ein Vorhang gewesen war.
Wir Kinder waren schon bei einigen Hochzeiten, die im Dorf stattgefunden hatten, dabei gewesen und wussten demnach über den Ablauf der Zeremonie Bescheid. Pfarrer Rudi fragte mit tiefer Stimme: „Willst du, Jakob Zirler, die Anna Moser, die da neben dir steht, zu deiner Frau nehmen und sie lieben und ehren?“
Jakob antwortete laut mit „Ja“.
Und dann fragte Rudi mich, ob ich gewillt sei, den Jakob zu lieben und zu ehren.
Ich sagte: „Ja, ich will. Auf immer und ewig!“
Und da sagte auch Jakob noch: „Auf immer und ewig!“
„Als Hochzeitsschmaus holte sich die ganze Hochzeitsgesellschaft Marillen aus dem Zirler-Garten.
Alle Kinder hatten großen Spaß an diesem Theater gehabt, aber trotzdem wurde eine derartige Szene nie mehr wiederholt. Für Jakob und mich war die Hochzeit zwar auch nur ein Spiel gewesen, aber das „Für-immer-und-ewig“ empfanden wir als ein feierlich ernstes Versprechen.“
„Und was war mit dem Mond?“, fragte ich
ungeduldig.
„Gleich!“, sagte Oma „Du wirst es gleich hören! Es war nach einem halben Jahr, am Heiligen Abend. Am späten Nachmittag waren die Erwachsenen mit den letzten Vorbereitungen für das Fest beschäftigt. Jakob und ich spielten auf der Wiese hinter dem Haus. Hinter uns stand geheimnisvoll und dunkel der Wald. Unzählige Sterne glitzerten und zwinkerten am dunkelblauen Himmel. Wie heute war damals der Mond voll und rund und leuchtete auf die verschneite Wiese herab.
Jakob formte einen Schneeball und warf ihn nach mir.