Der Schein trügt
Im Frühling 2011 von Dr. Luis Fuchs
Ein Vierteljahrhundert nach dem Tschernobyl-GAU drängt sich uns die Frage auf: Trägt die Nutzung der Atomenergie anscheinend zum Wohlergehen der Menschheit bei oder ist dieser Nutzen nur ein scheinbarer?
Wenn die Regierung Berlusconi auf den Wiedereinstieg in die Kernenergie anscheinend verzichten will, dann können wir hoffen, dass ihr dabei auch Ernst ist. Wenn sie aber scheinbar die Atomkraft auf Eis legt, so setzt sie weiterhin auf den Ausbau der Kernenergie.
Es besteht nämlich ein wesentlicher Unterschied zwischen anscheinend und scheinbar, der in der Alltagssprache oft nicht berücksichtigt wird. Anscheinend drückt die Vermutung aus, dass etwas so ist, wie es zu sein scheint. So ist meine E-Mail anscheinend nicht eingetroffen oder nicht gelesen worden, weil der Kollege der Einladung nicht nachgekommen ist. Scheinbar hingegen bedeutet, dass etwas nur dem äußeren Eindruck nach, nicht aber tatsächlich so ist. Scheinbar interessierte sich der Kollege nicht mehr für meine Botschaften, in Wahrheit wollte er nur seine Ruhe haben.
Dreht sich die Sonne scheinbar oder anscheinend um die Erde? Sie dreht sich nur scheinbar um die Erde, in Wirklichkeit tut sie es nicht. Das Wort anscheinend wäre hier vollkommen fehl am Platz. In besonders romantischen Momenten steht die Zeit scheinbar still. Hier ist scheinbar richtig gebraucht, es handelt sich ja um keinen echten Zeitstillstand, eben nur um einen „gefühlten“. Auch die Wüste ist nur scheinbar endlos, denn auch sie stößt irgendwo an ihre Grenzen. Sich des Scheins aus strategischen Gründen zu bedienen, kennt man sogar bei Tieren: So stellen sich Käfer und Spinnen tot, um beim Gegner den Eindruck zu erwecken, seine Beute sei bereits tot.