Als ein kleiner Esel die Engel singen hörte
Im Winter 2015 von Waltraud Holzner
Vor langer Zeit lebte in einem fernen Land ein Gewürzhändler, der zog umher und verkaufte den Leuten seine Kräuter, Körner und Wurzeln. Er hatte einen Esel, dem er die beiden großen Körbe, in denen er seine Ware aufbewahrte, so auflud, dass sie rechts und links an den Seiten des Tieres baumelten. Nun gibt es große und kleine Esel, wie es auch große und kleine Menschen gibt. Der Esel des Gewürzhändlers war sehr klein und nicht kräftig. Trotzdem setzte sich der dicke Kaufmann oftmals auf den Rücken des ohnehin schon schwer beladenen Tieres und ließ sich von ihm tragen.
„Soll ich mich anstrengen, wenn es bergauf geht?”, dachte der Mann. „Wozu habe ich einen Esel?”
Der kleine Esel trug geduldig alle Lasten, obwohl ihm sein Rücken und seine Beine von Tag zu Tag mehr schmerzten, aber manchmal war er sehr traurig und müde. Eines Tages, als der große, schwere Händler wieder auf dem Esel über Berg und Tal ritt, blieb das Tier stehen und ging nicht mehr weiter, keinen Schritt. Der Gewürzhändler stieg ab und versuchte, das Tier zum Weitergehen zu bewegen, aber weder Schimpfen noch Schläge halfen. Das Eselchen stand trotzig still und bewegte sich nicht. Es zogen viele Leute vorbei, manche lachten, andere gaben gute Ratschläge. Da wurde der Gewürzhändler immer zorniger und als endlich ein Bauer mit einem Ochsenkarren daherkam, lud der Kaufmann bei diesem seine Gewürzkörbe auf und ließ den Störrischen mit der Absicht stehen, sich im nächsten Dorf ein anderes Tier zu kaufen. „Bleib stehen so lange du willst, du dummes Vieh, von mir aus kannst du dir von nun an dein Futter selbst suchen!”, rief der Händler noch und ließ den Widerspenstigen zurück. Da kümmerten sich auch die anderen Leute nicht mehr um das Tier und gingen ihres Weges.
Es waren in jenen Tagen viele Menschen unterwegs, denn der Kaiser wollte wissen, wie viele Menschen in seinen Ländern lebten und so mussten alle Leute in ihre Heimatstadt gehen, um sich in die Zählungslisten eintragen zu lassen. Die Reichen ritten zu Pferd oder auf einem Kamel, viele hatten wenigstens einen Esel, aber die armen Leute mussten zu Fuß gehen.
So stand also der kleine Esel auf der Straße und ließ die Menschen an sich vorbeiziehen. Nach einer Weile dachte er bei sich: „Nun habe ich ein wenig gerastet und mein Rücken tut nicht mehr so weh. Ich werde mir Futter suchen, denn jetzt bin ich ein freier Esel, der selbst für sich sorgen kann. Niemand wird mir mehr schwere Lasten aufbürden oder mich schlagen, wie schön!”
So kam es, dass der kleine Graue, als es Abend wurde und nur mehr wenige Menschen unterwegs waren, noch immer die Straße entlang trabte und hie und da ein paar Grasbüschel oder eine Distel als Futter vom Wegrand zupfte. Schon standen ein paar Sterne am Himmel, einer, ein ganz großer mit einem Schweif, strahlte so hell, dass die ganze Gegend von seinem Licht beschienen war. Es war empfindlich kalt geworden und der Esel sehnte sich nach einem warmen Stall oder wenigstens nach einem Unterstand. Damit ihm wärmer wurde, lief er schneller und so kam es, dass er zwei Wanderer einholte, die zu so später Stunde noch unterwegs waren. Es war ein Mann und eine Frau. Sie gingen sehr langsam und die Frau stützte sich auf den Arm ihres Mannes.
Der Esel dachte: „Wo Menschen hingehen, gibt es auch einen Platz für Tiere. Ich will hinter den beiden herlaufen, vielleicht bringen sie mich zu einem warmen Nachtquartier!” Es ist also grundverkehrt zu denken, Esel seien dumme Tiere. Im Gegenteil, Esel sind sehr gescheit, aber bei den Menschen wird Gutmütigkeit leider oft mit Dummheit verwechselt. So trottete der Esel hinter den beiden her, bis sich der Mann nach ihm umdrehte und ihn ansprach: „Komm her, kleines Eselchen, du scheinst niemanden zu gehören. Hast du Durst?” Und er nahm einen Lederbeutel von der Schulter, öffnete ihn und ließ das Tier daraus trinken. Auch die Frau war herzu gekommen und streichelte den Esel. „Schau, Josef, er hat Wunden an seinem Körper, jemand muss ihn sehr böse geschlagen haben.” Der Esel fühlte die zarte Berührung der Frau und meinte, alles Weh und Leid, das er in seinem Leben hatte ertragen müssen, wären durch diese Hände weggewischt worden. Nun kraulte ihn der Mann, der Josef hieß, zwischen den Ohren und bat: „Würdest du, braves Eselchen, Maria, meine Frau, ein Stückchen tragen? Sie ist so müde und wir haben bis jetzt kein Nachtquartier gefunden.”
Noch nie war der Esel um etwas gebeten worden. Bis zum heutigen Tag war er mit Schreien und Schlägen zu schweren Arbeiten gezwungen worden. Gern würde er diese guten Menschen begleiten und die Frau würde eine viel leichtere Last für ihn sein als der dicke Gewürzkrämer mit seinen schweren Pfeffersäcken. Sanft rieb er seinen Kopf an Josefs Hand und hielt ganz still, als dieser ihm Maria auf den Rücken setzte. Er spürte kaum das Gewicht der Frau, aber es wurde ihm warm und er war so fröhlich wie noch nie in seinem Eselleben.
Der Esel ging vorsichtig neben Josef einher, er gab acht auf Maria, die auf seinem Rücken saß und ihm manchmal zärtlich über sein Fell strich. Endlich erreichten sie eine Herberge. Josef musste einige Male an das Tor klopfen, ehe aufgesperrt wurde. Der Wirt öffnete die Türe nur einen kleinen Spalt und fragte Josef missmutig, was er denn wolle. „Lass uns bitte bei dir übernachten”, sprach Josef. „Meine Frau ist müde und kann nicht mehr weiter. Wir sind schon so lange unterwegs und zwei Wirte haben uns abgewiesen.”