Die Galeristin (1)
Ein Meran-Krimi von Siegfried Schneider
Im Sommer 2010 von Siegfried Schneider
Mittwoch, 27. Jänner
Der letzte Tag ihres Lebens begann mit einem Lächeln. Nach mehreren schlaflosen Nächten stand für Nicole Angerer fest, was zu tun war. Sie würde sich von Gernot Angerer scheiden lassen, das Sorgerecht für die Kinder beantragen und ihren Geliebten zum Teufel jagen. Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. Als hätte sie den Schlüssel zu der Tür gefunden, hinter der das Leben weitergeht.
Die gebürtige Französin lebte seit 12 Jahren in Meran. Sie war mit einem angesehenen Architekten verheiratet, hatte zwei wohlgeratene Kinder und war mehrheitliche Teilhaberin einer Kunstgalerie. Alles schien in geordneten Bahnen zu verlaufen. Bis vor einem halben Jahr die Bombe platzte und in ihrer Umgebung für erhebliche Erschütterungen sorgte. Knall auf Fall hatte sie ihre Familie verlassen und war mit Stefan Gaiser, ihrem Geschäftspartner, zusammengezogen, mit dem sie ein Verhältnis angefangen hatte.
Nicole hatte ihn, im Beisein ihres Mannes, bei einer Benefizveranstaltung im Kurhaus kennengelernt. Der 40-jährige Nordtiroler, ein charmanter Blickfang, eloquent und aufmerksam, war nach Meran gekommen, um das Management eines Hotels zu übernehmen. Daraus wurde aber nichts. Gaiser blieb trotzdem in Meran. Man traf sich hier und da bei verschiedenen Anlässen, und eines Tages bot er ihr an, sich mit 20% bei ihr einzukaufen. Nicole, die in einem vorübergehenden Engpass steckte, kam das sehr gelegen. Woher er das Geld hatte, interessierte sie nicht. Jedenfalls hatte sie ihn nie danach gefragt.
Stefan Gaiser war ein Irrtum, musste sie sich inzwischen eingestehen, und es war höchste Zeit, sich wieder von ihm zu trennen. So geräuschlos wie möglich. Keine langen Diskussionen, keine gegen-seitigen Vorwürfe und vor allem keinen Streit um die Besitzstände. Sie würden sauber trennen, was ihr und ihm gehörte.
Gaiser hielt sich zurzeit auf einer Kunst- und Antiquitätenmesse in Brüssel auf und wollte vor dem Wochenende nicht zurück sein. Bis dahin hoffte sie, vollendete Tatsachen geschaffen zu haben. Doch es kam anders.
Nicole, immer noch beschwingt von ihrem Entschluss, alles hinter sich zu lassen, packte an diesem Januarmorgen nur ein paar persönliche Sachen ein. Wäsche und Kleidung vor allem, und einige Papiere, die ihr wichtig schienen. Unten vor dem Haus wartete der Taxifahrer, der ihre Koffer in die kleine Pension in Gratsch bringen sollte, in der sie eine Weile wohnen würde, bis sich etwas anderes ergab. Der Taxifahrer half ihr beim Einladen. In diesem Moment bog der Wagen von Gaiser um die Ecke und hielt unmittelbar hinter dem Taxi. Das hätte nicht sein müssen, dachte Nicole und spürte, wie ihr trotz der Kälte plötzlich ganz heiß wurde. Gaiser sprang aus dem Wagen und kam wütend auf sie zu. „Was wird das?“ Statt zu antworten, wandte sich Nicole dem Taxifahrer zu, dem die Szene offensichtlich peinlich war. Sie gab ihm die beiden Geldscheine, die sie in der Hand hielt. „30 Euro. Der Rest ist für Sie.“ Der Mann bedankte sich und stieg in seinen Wagen. Nicole ließ sich aufreizend viel Zeit, bevor sie auf Gaisers Frage zurückkam. „Nach was sieht es denn aus? “ Gaiser war sichtlich bemüht, seine Beherrschung nicht zu verlieren. „Nach einem Abschied auf Französisch.“ Er stieß mit der Schuhspitze in den harten Schnee, der sich seit Wochen an den Straßenrändern festfraß. „Ich hab' es geahnt. Du warst schon bei meiner Abreise so... so merkwürdig.“ „So?“, gab sie schnippisch zurück, um ihre eigene Unsicherheit zu verbergen. „Ich weiß es erst seit heute Morgen.“ „Was weißt du?“ „Dass ich dich verlassen werde.“ Sie knöpfte ihren Mantel zu und ging zu ihrem Wagen.
„Warte,“ rief er ihr nach, „wir können doch darüber reden.“
„Nicht hier, nicht auf der Straße.“ Sie schaute auf ihre Uhr. „Ich muss ins Geschäft.“
Gaiser ging ihr ein paar Schritte nach. Sie blieb stehen und sah ihn an. „Du hast eine anstrengende Fahrt hinter dir. Schlaf' dich erst mal aus.“
„Ich denk' nicht dran.“ Sie stieg ein und fuhr los. Im Rückspiegel sah sie, dass er ihr folgte.
Beide kamen fast gleichzeitig vor der Galerie an. Nicole ging voraus, sperrte die Tür auf, legte ihren Mantel ab und betrat das kleine Büro im hinteren Teil der Galerie. Gaiser war einige Schritte hinter ihr. Er schien sich beruhigt zu haben. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an und hielt ihm die Packung hin. Gaiser, der in der Tür stehen geblieben war, lehnte ab.
„Wo wirst du wohnen? Gehst du zu deinem Mann zurück?“ „Nein.“ Sie holte einen Terminkalender aus der Schublade und begann darin zu blättern. „Hör zu, Stefan. Es gibt noch etwas, was ich dir sagen muss. Ich werde meine Beteiligung an der Galerie aufgeben.“ Sie wusste, dass er das Geschäft nicht allein weiterführen konnte, weder finanziell noch fachlich. Umso überraschter war sie über seine Reaktion. Er protestierte nicht, blieb ganz ruhig. Nur in seinem Gesicht arbeitete es.
„Was sagst du dazu?“ Gaiser zog einen Stuhl heran und setzte sich, vis-à-vis von ihr, vor den Schreibtisch. „Ich bin einverstanden. Ich meine, wenn schon Trennung, dann auf der ganzen Linie ... Vorausgesetzt ...“ Er nahm die Visitenkarte, die auf dem Schreibtisch lag, und las: „Werner und Marlies Feldmann. Reinigung ... Wer ist das?“
„Die Frau, die uns das Bild verkauft hat“ antwortete sie ungehalten. „Lenk' nicht ab. Vorausgesetzt, was?“ „Vorausgesetzt wir verkaufen vorher den Watteau. Ich habe einen Käufer, der bereit ist, drei Millionen dafür auf den Tisch zu legen. Den Erlös teilen wir. Halbe-halbe, versteht sich.“ „Der Watteau, der Watteau. Das Bild gehört uns nicht.“
Vor 2 Wochen war eine junge Frau in die Galerie gekommen, mit einem Bild unter dem Arm, 40 x 50 cm groß, das sie in Seidenpapier eingepackt hatte. Sie brauche Geld, hatte sie gesagt, und jemand habe ihr diese Adresse gegeben. „Lassen Sie mal sehen.“ Die junge Frau wickelte beinah vorsichtig das Bild aus dem Papier, und zum Vorschein kam eine grandiose Scheußlichkeit, eine Bergseelandschaft in einem geschmacklosen, pseudobarocken Rahmen. Eines von diesen Bildern, die zu Dutzenden auf Flohmärkten und bei Ramschverkäufen angeboten wurden. Gaiser schüttelte den Kopf. Aber Nicole kaufte ihr, in einer Anwandlung von Generosität und Mildtätigkeit, das Bild für 500 Euro ab.
„Du bist verrückt“, sagte Gaiser, „das taugt nicht mal für den Kamin.“ Sie gab ihm recht. Ein Geschäft war das nicht. Aber dann erlebten sie eine Überraschung, die Nicole den Atem verschlug und Stefan Gaiser sofort einen Schatz wittern ließ. Hinter dem kitschigen Bergsee steckte ein zweites Bild, ein Rokoko-Motiv, das sie spontan an die 'Fetes Galantes' von Watteau erinnerte. Das Bild hatte keine Signatur, auch das sprach für Watteau, und es war außer zwei, drei kleinen Beschädigungen in einem guten Zustand.
Ihre Suche im Internet war erfolglos geblieben. Also hatte sie Arnold Palm, ihren alten Kunstprofessor in Basel, angerufen, ihm das Bild beschrieben, und, um sicher zu gehen, noch einige Fotos, die sie gemacht hatte, per Email zugeschickt. Palm war sofort voll eingestiegen. Sie kannte seine Vorliebe für die französische Malerei. Noch am selben Tag wusste sie, dass es sich bei ihrem 'Fund' um 'Die Hochzeit des Apoll' handelte, ein Bild, das Watteau ein Jahr vor seinem Tod gemalt hatte, vermutlich eine Auftragsarbeit für den Conte de Charissée, und dass das Bild jahrzehntelang als verschollen galt.
Gestern hatte Palm angerufen, dass er auf dem Weg nach Meran sei. Es gäbe Neuigkeiten. Gaiser klopfte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Nicole schlug den Terminkalender zu. „Meine Antwort ist, nein. Das Bild wird nicht verkauft. Ich werde die rechtmäßigen Besitzer ausfindig machen, und Palm wird mir dabei helfen.“ „Ist er in Meran?“ Nicole nickte nur. Sie fand, dass ihn das jetzt nichts mehr anging.
Gaiser nahm den Meterstab, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und tippte sich damit an die Stirn. „Ihr habt sie doch nicht mehr alle. Das ist 80 Jahre her. Die leben gar nicht mehr.“
„Das werden wir rausfinden. Egal, wie viel das Bild wert ist. Das ist eine Frage der Ehre.“
Gaiser stand auf und knallte den Meterstab auf den Tisch. „Zum Teufel mit deiner Ehre. Hier geht's um Millionen.“ „Die uns nicht zustehen.“
Gaiser ging, blieb in der Tür noch mal stehen und drehte sich zu ihr um. „Dann sieh' mal zu, wie du aus unserem Vertrag rauskommst. Ich lass' mich nicht über den Tisch ziehen.“
Nachdem Karin Hessler, eine junge Kunststudentin, die dreimal in der Woche auf den Laden aufpasste, aufgekreuzt war, machte sich Nicole Angerer auf den Weg zu ihrem Mann.