Asyl oder Gefängnis
Geschichte eines „Ausländers“
Im Herbst 2012 von Dr. Paul Bertagnolli
Er ist seit zehn Jahren auf der Flucht: Abdul Khafi aus Bangladesch ist 28 Jahre alt und lebt seit Sommer 2011 in Meran. Nun soll er aus Italien ausgewiesen werden. Die Geschichte eines jungen Mannes, die außergewöhnlich ist und doch für viele Flüchtlingsschicksale stehen kann. Vor allem aber zeigt sie, wie religiöser Fanatismus die Freiheit und Würde des Menschen bedroht.
Wie alles angefangen hat ...
Abdul Khafi wird in Gaibandha geboren, einer Provinz im Norden von Bangladesch, in einem Staat, der trotz wirtschaftlicher und sozialer Fortschritte immer noch von Armut und Korruption geprägt ist. Abdul Khafi ist 15. Er zieht, wie viele andere Bangladescher in die 15-Millionen-Stadt Dhaka im Süden des Landes, Hauptstadt und Zentrum der größten Jute-Anbauregion der Welt. Dort arbeitet er für vier Jahre in einer Textilfabrik. In Bangladesch werden weltweit die niedersten Löhne in der Textilbranche gezahlt – der von der Regierung festgelegte Mindestlohn beträgt 29 Euro im Monat. Abdul Khafi ist, wie die meisten Bengalesen und wie 90 Prozent der Einwohner von Dhaka, Moslem. Zwischen den Moslems und den Hindus besteht seit der Trennung von Indien ein gespanntes Verhältnis. Trotzdem geht Abdul Khafi eine Verbindung mit einem Hindu-Mädchen ein. Die Liebe ist stärker als die Vernunft. Denn er weiß: Nach islamischem Recht, das in Bangladesch gilt, sind vor- und außereheliche Beziehungen verboten und werden bestraft. Abdul Khafis Freundin wird schwanger. Verachtung und Zorn der Gesellschaft und der Familie sind ihnen gewiss. Um diesem Hass und der Bestrafung zu entgehen, heiraten die beiden.
Hass auf die andere Religion
Doch damit stellen sie eine Gesellschaft nicht zufrieden, die in jahrzehntealtem Hass gespalten ist: Hindus und Moslems sehen sich als Vertreter der allein wahren Religion an. Im islamischen Bangladesch kann kein Moslem eine Hindu heiraten! Also muss Abduls Freundin zum Islam konvertieren. Sie macht diesen Schritt gegen alle Drohungen und Klagen der eigenen Familie, in der Hoffnung, ihr Glück und in der Ehe einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Doch das Ehepaar steht nun erst recht zwischen den Stühlen: Sie werden weder von den Moslems noch den Hindus akzeptiert. Vor allem die hinduistische Familie der Frau sieht in der Konversion einen Verrat am Glauben.
Der Schwiegervater
Der Vater von Abduls Frau ist ein einflussreicher Politiker in Dhaka. Er duldet nicht, dass seine Tochter zum Islam übergetreten ist! So geht er zur Polizei und klagt seinen Schwiegersohn an, der inzwischen Vater von einem Sohn geworden ist: Er habe seine Tochter missbraucht und zur Heirat gezwungen. Abdul und seine Familie müssen fliehen, um einer Verhaftung zu entgehen. Jahrelang leben sie im Untergrund und erst nach dem Tod des eigenen Vaters wagt es Abduls Frau, den Behörden die Wahrheit zu sagen. Doch ihr Stiefbruder fühlt sich berufen, die Ehre der Hindus zu verteidigen. Er erhebt wieder Anklage gegen seinen Schwager. Er droht, ihn umzubringen, sollte er nicht zum Hinduismus konvertieren oder aber sich von seiner Frau scheiden lassen. Abdul und seine Familie müssen flüchten. Doch wohin sie auch gehen, sie bleiben in den Augen der Gesellschaft schuldig. Die Unterstützung durch die Verwandtschaft, die in Bangladesch von großer Wichtigkeit ist, fällt weg. Die junge Familie kann sich kaum über Wasser halten.
Der Terror nimmt zu
Nur ein Mensch überwindet die Mauern des Fanatismus: Abduls Adoptivmutter bürgt für ihren Sohn mit ihrem Grundstück, sodass dieser einen Kredit bei der „Sonali-Bank“ aufnehmen kann. Er eröffnet ein Geschäft für Schreibwaren und arbeitet gleichzeitig in einer Textilfabrik. Doch die Familie der Frau gibt nicht auf. Die Todesdrohungen gegen Abdul häufen sich. 2007 geht sein Geschäft in Flammen auf und wird vollständig zerstört. Die Behörden sehen als Ursache einen Kurzschluss an. Doch die Schwäger Abduls geben vor diesem offen zu, dass sie den Brand gelegt haben. Schlägertrupps stürmen mehrere Male die Wohnung der jungen Familie. Mitten in der Nacht treten sie die Tür ein, bedrohen Abdul und zwingen ihn mit Frau und Kind, die Wohnung zu verlassen. Als alles nichts hilft, greift die Verwandtschaft zum letzten Mittel: Sie behaupten bei der Polizei, Abdul sei Mitglied einer „Gang“ und habe eine Frau entführt und umgebracht. Dass es in Bangladesch bei „einflussreichen Personen“ üblich ist, durch solche falsche Anklagen Druck auszuüben, um an ein bestimmtes Ziel zu kommen, das wissen Abdul und wohl auch die Polizei. Die Korruption ist aber so im System verwurzelt, dass es Abdul nicht schafft, dagegen anzukommen. Dazu müsste er mehr Geld und vor allem mehr Kraft haben. Doch die Kraft, gegen den mächtigen Polizeiapparat und die Lokalpolitik anzutreten, fehlt ihm. Ihm bleibt nur die Flucht. Abdul schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch.
Die Flucht
Wie soll es weitergehen? Wie kann Abdul seine Frau und sein Kind schützen? Er will seine Religion nicht aufgeben, er will sich auch nicht scheiden lassen. Es bleibt ihm nur die Flucht: Wenn er das Land verlässt, so glaubt er, wird man auch seine Familie in Ruhe lassen. Ein Bekannter verhilft ihm zu einem Reisepass und einem Visum. Am 7. Oktober 2009 bricht Abdul Kahfi nach Libyen auf, wo er bei einer Baufirma Arbeit findet. Doch auch hier kann er nicht lange bleiben: Der Krieg bricht aus und Abdul flüchtet weiter nach Italien, wo er am 28. Mai 2011 ankommt. Hier fragt er um Asyl an. Er ist nicht der einzige Flüchtling aus Bangladesch: Drei Tage zuvor kamen 15 Flüchtlinge - allesamt Männer – aus Bangladesch in Südtirol an. Auch sie hatten eine lange Odyssee hinter sich. Auch sie haben ihr Heil in der Flucht nach Libyen und dort in einem der vielen Flüchtlingsboote gesucht, die das Mittelmeer Richtung Süditalien überqueren. Dort waren sie von den Behörden aufgegriffen und in einem Auffanglager in Apulien einquartiert worden, bevor sie nach Südtirol gebracht worden sind.
Der Asylantrag
Am 28. November 2011 wird Abdul Kahfi in Verona vom Gericht angehört. Doch was soll er als Grund angeben? Dass er in Bangladesch wegen Mordes gesucht wird? Dass die Verwandten seiner Frau ihn bedrohen? Abdul hat berechtigte Angst, dass er als mutmaßlicher Mörder sofort an Bangladesch ausgeliefert würde. So sagt er nicht, warum er geflüchtet ist. Während der Prozess läuft, schafft es Abdul, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Er arbeitet im Frühling 2012 für die Caritas in Caorle, kommt dann nach Meran, wo er im Haus Arnika wohnt. Er arbeitet für die Pitsch-Stiftung und den Meraner Stadtanzeiger, besucht Deutschkurse. Am 17. August 2012 wird ihm vom Innenministerium mitgeteilt, dass sein Antrag um Asyl nicht angenommen wird. Abdul Kahfi kann aber nicht nach Bangladesch zurück. Er legt Rekurs gegen die Ausweisung ein. Die Gesetze sprechen für ihn. Die Genfer Konvention, das italienische Gesetz und Verfassung gewähren Menschen, die aufgrund religiöser Motive verfolgt werden, Schutz. Abdul Kahfi kann nur hoffen, dass man in ihm nicht nur den lästigen Ausländer sieht, sondern einen Menschen, dessen Würde nicht respektiert wird.