Siezen Sie noch oder duzt du schon?
Im Winter 2015 von Dr. Luis Fuchs
„Hallo, Sie, ich hätte gern ...“, vernimmt man nicht selten in Gastlokalen. „Entschuldigung, kann ich bitte ...“, ruft der Gast der Kellnerin zu. „Fräulein, würden Sie bitte ...“, hört man nur mehr selten, gerade einzelne Senioren glauben, damit den guten Ton zu treffen. Das gut gemeinte „Fräulein“ ist durchwegs vom unpersönlichen „Hallo“ und „Entschuldigung“ ersetzt worden.
Genau genommen ist das „Fräulein“ auf ein keineswegs frauliches „Es“ reduziert, also auf ein der Emanzipation zuwiderlaufendes Neutrum degradiert.
Mit „Herr Ober“ rufen wir eine männliche Servierkraft, wie wäre es dann mit „Frau Oberin“? An eine falsche Adresse wäre so eine Anrede gerichtet, die Oberin ist ja im Nonnenkloster zu suchen.
„Bist du die Wurst?“, fragt die Bedienung im Südtiroler Berggasthof den Gast. „Nein, ich bin der Braten, die Wurst ist meine Frau.“ Niemand möchte wohl gerne als Wurst angesprochen werden, wer will schon als Hanswurst dastehen. In einer Almwirtschaft oder Schutzhütte stört uns dagegen die Anrede mit einem vertraulichen „Du“ keineswegs; am Berg fühlen wir uns ungezwungener, wir rücken näher zusammen, die Umgangsformen werden lockerer. Das „Du“ vermittelt ein Wir-Gefühl, eine Gruppenzugehörigkeit, wohingegen wir mit dem „Sie“ mehr auf Distanz gehen.