Beim Einsiedler in der Naif
Im Frühling 2010 von Dr. Walter Egger
Zieht der Frühling ins Land, erreicht er, etwas verspätet zwar, auch den schattigen Winkel am Eingang des Naiftales, wo das Marienkirchlein beim Einsiedler nach langer, eisiger Winterruhe mit dem Fest „Maria Verkündigung“ am 25. März wieder zu neuem Leben erwacht. Zunehmend begegnen wir dann wieder Menschen, die hier still in Andacht und Gebet verweilen, oder die auf dem von Schloss Labers hereinführenden Stationenweg zum Kirchlein pilgern.
Eine historische Besonderheit ist die mit der Kirche verbundene, alte Einsiedelei. Denn von den zahlreichen Einsiedeleien, die es in Tirol einst gegeben hat, dürfte diese die einzige sein, die in Südtirol noch mit Klause und Kapelle erhalten ist.
Die Pfarrchronik berichtet, dass das Kirchlein von den Maisern zum Schutz gegen die Überschwemmungen des Naifbaches gebaut worden sei und dass im Jahre 1698 der Trientner Bischof Michael die Genehmigung zur Messfeier erteilt habe. Im Jahr 1703 wird der Bau eines „Eremitoriums“, d.h. einer Einsiedelei, bei der Kirche erwähnt.
Die Naifer Einsiedler kamen vemutlich vom Kloster Josefsberg bei Algund, wo sie auf ihr abgeschiedenes Leben vorbereitet wurden. Dort war im Jahre 1669 eine Einsiedelei errichtet und 1681 mit dem Bau eines Klosters begonnen worden, dessen Brüder dem Orden des hl. Hieronymus angehörten.
Der Einsiedler oder Eremit, auch Waldbruder genannt, hauste fern von bewohnten Siedlungen, einsam in einer armseligen Hütte oder Felsenhöhle und verbrachte seine Tage mit Gebet und Fasten. Er lebte von Spenden, die hauptsächlich aus Nahrungsmitteln bestanden: Schmalz, Butter, Eier, Roggen, Weizen, Türken.
Als Kleidung trug er eine braune Kutte mit dem Strick um die Hüften, daran Rosenkranz und Kreuz, im Winter einen Mantel. Die Wohnung war ausgestattet mit Betstuhl, Sitzbank, Tisch, Heiligenbildern an den Wänden, Strohsack, Wolldecken ohne Leintücher, Evangelien-buch und Lebensbeschreibungen der Altväter in der Wüste.
Im Jahre 1782 hob Kaiser Josef II. alle Einsiedeleien auf; so fand das beschauliche Leben der Eremiten ein plötzliches Ende. Diese mussten ihre Klausen verlassen, die Eremitenkleider ablegen und sich neuen weltlichen Tätigkeiten zuwenden.
Von den Naifer Einsiedlern sind namentlich nachweisbar: Frater Franz Gartner (+12.2.1767), Frater Macarius Hölzl (+16.3.1774). Beide sind in der Einsiedelei gestorben und wurden in Untermais begraben. Frater Macarius Hölzl hatte sein Vaterhaus am Kripplerhof in Obermais. Der Maler Josef Hölzl war sein Großneffe. Eines seiner Gemälde trägt bezeichnenderweise den Titel „Beim Einsiedler“. Der letzte Naifer „Oansiedl“ soll Bruder Dominikus gewesen sein.
Nach der erzwungenen Aufhebung scheint die Naifer Einsiedelei lange Zeit kaum mehr bewohnt worden zu sein. 1829 wird sie der Schule von Mais zu Schulzwecken und als Lehrerwohnung zur Verfügung gestellt. 1845-46 wird sie als „leer stehend“ und „verlassen“ beschrieben.
Das traute Marienkirchlein, eine Oase des Friedens im stillen romantischen Winkel des Naiftales, blieb aber ein beliebtes Ziel von Pilgern und Betern. Die Pfarrgemeinde Mais unternahm zwei Mal im Jahr Bittgänge dorthin, und zwar am letzten Freitag im Mai und am Patrozinium-Fest Maria Heimsuchung am 2. Juli.