Wir leben in einer sexuell verarmten Gesellschaft
Sommergespräch mit Miriam Pobitzer, Autorin des Buches „Die Sexlüge. Mehr Liebe“
Im Sommer 2019 von Eva Pföstl
Eigentlich geht Sex ganz einfach. Trotzdem sind viele Menschen unzufrieden oder leiden gar. Jeder von uns ist von individuellen Erfahrungen, gesellschaftlichen Vorstellungen, ja oft sogar von Lügen über Sex und Liebe geprägt. In unserem Sommergespräch ermutigt uns Miriam Pobitzer, Sexualtherapeutin aus Meran, eine befreite Liebe zu entdecken, denn Sex ist Kommunikation – persönliche Erfüllung kann nur erreichen, wer seine Wünsche klar formuliert.
Meraner Stadtanzeiger (MS): Frau Pobitzer, Sie sind seit vielen Jahren als Sexualtherapeutin tätig. Was hat Sie dazu bewogen, diesen Weg einzuschlagen?
Miriam Pobitzer: Im Grunde war es Elia Bragagna, sie ist renommierte Sexualwissenschaftlerin in Wien, die mir bei einem meiner ersten Vorträge über die Urgeschichte weiblicher Lust gesagt hat: ‘Mädel, so Leute wie dich brauchen wir.‘ Sie hat den Kontakt zu Piet Nijs in Belgien hergestellt, wo ich nach dem Studium einen Master gemacht habe und anschließend die Sexualmedizin und -therapie in München.
MS: Der Titel Ihres Buches lautet „Die Sexlüge. Mehr Liebe“. Leben wir in einer sexuell erkrankten Gesellschaft?
M. Pobitzer: Ja, wir leben vor allem in einer sexuell verarmten Gesellschaft. Die Idee, dass sich Sex nur zwischen Penis und Scheide abspielt, ist einfach irr und macht uns krank. Aus dieser Lüge dürfen, sollen und müssen wir uns befreien, damit wir wieder die Möglichkeit erlernen, Liebe zu empfinden.
MS: Ganz allgemein: Wie hat sich unser Sexualleben verändert?
M. Pobitzer: Ursprünglich wurde das körperliche Verschmelzen von Frau und Mann als das gefeiert, was es ist - als Potenzial für neues Menschenleben. Mit der Erfindung von Besitz wurde Geld wichtig, damit die Erbfolge und die Monogamie. Die Kirche hat das natürliche Schamgefühl dazu benutzt den gesamten sexuellen Körper zu reglementieren und negativ zu bewerten. Im Grunde ist es natürlich, intime körperliche Empfindungen in einem sicheren Raum zu schützen. Ähnlich erging es uns mit AIDS. Sex hat das Potenzial zum Leben – die medizinische Propaganda hat den Tot in den Sex gebracht. Die Pharmaindustrie hat mit Viagra den steifen Penis zum zentralen „Ding“ im Sex gemacht. Durch diese Manipulationen hat Angst – egal ob durch Kirche, Pädagogik und Medizin – die Liebe aus dem Körper vertrieben. Heute benutzen die Medien den natürlichen Sinn für das Schöne, um aus dem Sex eine Sucht zu machen, die immer verfügbar ist und den Körper funktionalisiert. Wir sind bewusst und unbewusst unzufrieden mit uns und haben die Fähigkeit verloren, lebendige Vibrationen in uns zu spüren. Für Naturvölker ist der Körper mit all seinen Ausdrucksweisen und seiner eigenen Möglichkeit zur Ekstase auch heute noch heilig. Dieses Wissen und Können haben wir verloren.
MS: Wirkt sich ein verändertes Sexualverhalten auch auf das Verständnis von Liebe aus?
M. Pobitzer: Liebe beginnt erst dann, wenn ich schenke, wenn ich mich aus meinem Überfluss an Lebensfreude mitteilen mag. Dann kann ich beginnen, von Liebe zu sprechen, weil ich dann einen Raum für einen freien und menschlich reichhaltigen Austausch öffne.
MS: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass jedes Paar untreu ist: in Gedanken, Worten oder Taten. Sind wir unfähig, monogam zu leben?
M. Pobitzer: Wir sind fähig und sehnen uns danach, emotional erfüllte Beziehungen zu leben. Und das tun wir, ob erlaubt und für alle Beteiligten produktiv oder nicht. Ich bin davon überzeugt, dass erst in langjährigen, gereiften Beziehungen eine besondere Intensität an körperlicher Liebe gelebt werden kann. Der Kick und das Abenteuer spielen endlich keine Rolle mehr und die Sucht nach Adrenalin im Sex kann ruhig werden. Auf hormoneller Ebene passiert dann etwas grundsätzlich Anderes: Oxytocin und Prolactin sind die vorwiegenden Hormone beim Sex, weil er emotional von Vertrauen und Sicherheit, von Wohlwollen und Wertschätzung getragen wird. Das eröffnet Dimensionen, die unser Verständnis von Sex sprengen, da beginnen wir erst, Mensch zu sein. Monogam leben wir de facto nicht. Wir könnten aufhören, uns anzulügen und endlich mit Vertrauen in die Ehrlichkeit wachsen.
MS: Für viele Menschen ist „es“ eher ein Thema, über das man ungern oder gar nicht spricht. Wie kann man damit beginnen, sich mit sich selbst und seiner Sexualität zu beschäftigen?
M. Pobitzer: Mich selbst spüren. Das ist das Um und Auf. Ich bin geboren, ich werde sterben und in der Mitte passiert mein Leben. Wenn ich mich nicht spüre, bin ich dann überhaupt lebendig? Wir sind beim Sex sehr auf ein Funktionieren reduziert: Lust, Erregung, Orgasmus, das war’s, tschüss bis zum nächsten Mal. Sind es nicht immer wieder neue Geliebte und Abenteuer, geht diesem Spiel bald die Luft aus. Und vor dem nächsten Mal beginnen sich Männer und Frauen zu grauen, weil sie häufig auch abgewiesen werden und unbefriedigt bleiben. Also geht es darum, Ich zu sein und mich zu kommunizieren. Ehrlich mit mir und offen für den anderen. So banal es klingt, so schwierig kann es sein – es ist und bliebt die einzige und einfachste Möglichkeit, dieses so wunderbare körperliche Gefühl zu leben.
MS: Mit welchen Problemen und Anliegen kommen die Menschen zu Ihnen?
M. Pobitzer: Schade ist, dass Menschen häufig erst dann kommen, wenn die Trennung droht. Oft erzählen sie mir auch, dass sie meine Telefonnummer schon seit Jahren mit sich herumtragen. Wir wollen einfach nur das Eine: lieben und uns geliebt fühlen. Damit kommen alle Menschen. Ob sich das nun in einem vorzeitigen Samenerguss ausdrückt oder in einer Potenzstörung, in einer Lustlosigkeit, einem Vaginismus oder in einer Orgasmusunfähigkeit ist fast zweitrangig. Häufig kommen Missbrauchserfahrungen zum Vorschein, die über Jahrzehnte das Liebesleben überschatten. Immer verdirbt auch die Angst, zu versagen und der Druck, funktionieren zu müssen, den entspannten Genuss. Es kommen Alte und Junge, Paare und Einzelne.