Der Anfang aller Erkenntnis ist Staunen
Gespräch mit Prof. Günther Dissertori
Im Herbst 2017 von Eva Pföstl
Der Anfang aller Erkenntnis ist Staunen: Staunen über die Welt, in der wir leben und die uns umgibt. Eine Welt, die von physikalischen Vorgängen durchdrungen ist. Welt und Leben sind Physik – genau das sagt der griechische Begriff „physis“, von dem sich die „Physik“ ableitet: Er bedeutet „Welt“, „Ur- sprung“, „Natur“. Eine Welt ohne Mathematik und Naturwissenschaften lässt sich nicht vorstellen. Das physikalische Weltbild ist daher nicht nur eine Grundlage der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch eine hohe kulturelle Leistung. Deshalb bezeichnet sich Günther Dissertori auch als Kulturschaffender.
Günther Dissertori leitet derzeit das Institut für Teilchenphysik der ETH Zürich und ist als Forschungskoordinator an den Messungen am CERN (die Europäische Organisation für Kernforschung) beteiligt. Das CERN mit Sitz in Genf ist derzeit das weltweit größte Forschungszentrum für Teilchenphysik. Hier suchen Forscher nach den fundamentalen Gesetzen des Universums. Es ist eine faszinierende Welt, ein utopischer Ort, eine Stätte, in der die Grenzen des technisch Machbaren und des real Verstehbaren zum Alltag gehören. In Dissertoris Welt verknüpfen sich Detailversessenheit mit weit gespannten Gedankengebäuden – und einer enormen Geduld. Im Gespräch mit dem Meraner Stadtanzeiger erklärt Dissertori, was die Forschung am CERN aus philosophischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht bedeutet.
Meraner Stadtanzeiger (MS): Herr Dissertori, Sie sind Teilchenphysiker und haben es mit Dingen zu tun, die sich dem Verständnis des Normalsterblichen oft nur schwer erschließen. Worum geht es bei Ihrer Arbeit?
G. Dissertori: Einfach gesagt, geht es in unserer Arbeit um das Verständnis der elementaren Bausteine der Materie und der fundamentalen Kräfte der Natur. Es geht um die Frage nach dem Ursprung der Teilchenmasse und um die Frage nach dem Ursprung und dem Zusammenhang der verschiedenen beobachtbaren Naturkräfte. In diesem Kontext geht es auch um das Verständnis des Universums, weil das Universum ganz am Anfang nur aus Teilchen und Kräften bestand. Beim Urknall bestand das Universum aus einer Suppe von Teilchen und Kräften, welche sich ausgedehnt und abgekühlt hat. Diese Entwicklung kurz nach dem Urknall kann man besser über die Teilchenphysik verstehen.
MS: Sie glauben also an den Urknall?
G. Dissertori: Ja, sämtliche wissenschaftliche Beobachtungen, die man bisher gemacht hat sind konsisthärentkonsistent mit der Hypothese bzw. dem Modell des Urknalls. Die Wissenschaft macht nie absolute Aussagen, sondern entwickelt Modelle (Beschreibungen) der Natur; und das Modell des Urknalls konnte bisher durch keine Beobachtung widerlegt werden.
MS: Warum ist der Urknall so faszinierend?
G. Dissertori: Es ist ungemein faszinierend zu erkennen, dass praktisch alle Bausteine (Protonen und Neutronen) der Atomkerne, aus denen wir aufgebaut sind, ca. 3 Minuten nach dem Urknall (der vor knapp 14 Milliarden Jahren stattgefunden hat) geformt wurden. In diesem Sinne bestehen wir also aus beinahe 14 Milliarden Jahre altem Material und der Satz “Von Staub bist Du genommen, zu Staub kehrst Du zurück” erhält eine naturwissenschaftliche Dimension.
MS: Bedeutet dies, dass Sie bei Ihren Untersuchungen über den Ursprung auch an die Grenzen von Wissenschaft, Philosophie, Religion und Ethik kommen?
G. Dissertori: Ganz klar gelangt man bei meiner Forschung und allgemein bei der Untersuchung von Naturgesetzen an die Grenzen von Wissenschaft, Philosophie und Ethik. Ich persönlich sehe darin jedoch kein Problem. Naturwissenschaft, Religion und Philosophie sind wie zwei verschiedene Häuser, in denen man verschiedene Sprachen spricht und andere Regeln herrschen: Solange man die beiden Sprachen und Regeln nicht vermischt und sich auf gleicher Ebene begegnet, kommt man gut miteinander aus.
MS: Man spricht bei Ihrer Forschung auch von “Gottesteilchen”. Sind Sie ein gläubiger Mensch?
G. Dissertori: Das Wort “Gottesteilchen” ist reiner Humbug. Ein Nobelpreisträger hat einmal vom “gottverdammten Teilchen” gesprochen – und plötzlich wurde in den Medien von “Gottesteilchen” gesprochen. Es handelte sich um das lange gesuchte Higgs-Teilchen, einen fundamentalen Baustein unseres heutigen physikalischen Weltbilds. Für die Vorhersage dieses Teilchens bekamen Peter Higgs und François Englert 2013 den Physik-Nobelpreis, nachdem wir das Teilchen bei uns am CERN ein Jahr vorher experimentell entdeckt hatten.
Zu Ihrer Frage: Der Glaube ist etwas Persönliches, man kann das gut von der Arbeit trennen. Ich versuche nach christlichen Werten zu leben, ich persönlich glaube jedoch nicht mehr an eine göttliche Figur.
MS: Warum war die Entdeckung des Higgs-Teilchens so bedeutend?
G. Dissertori: Es war der letzte Baustein, der zum sehr komplexen Standardmodell der Teilchenphysik noch fehlte. Für mich ein triumphaler Moment in der Forschung. Das Standardmodell in der Physik hatte das Problem, dass Elementarteilchen im Prinzip keine Masse haben dürften. Higgs postulierte die Existenz eines Teilchens, das mit den bekannten Teilchen in Wechselwirkung steht und ihnen dadurch Masse verleiht. Jahrzehntelang suchten Forscher nach einer Theorie, in der jedes Partikel seinen Platz bekam und die zudem die Beziehung dieser Teilchen korrekt beschrieb. Doch es wollte ihnen nicht gelingen. Um die Kräfte zu beschreiben, die in einem Atomkern wirken, hätten den bis dato entwickelten Theorien zufolge die zugehörigen Teilchen keine Masse haben dürfen. Das konnte nicht sein. Denn Teilchen ohne Masse würden allesamt mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum irren. Niemals könnten sich Elementarteilchen zusammenfinden, um Materie zu formen: Sterne, Planeten, Menschen.
MS: Beim CERN werden die weltweit größten und komplexesten Geräte genutzt, um die kleinsten Bestandteile der Materie - die Elementarteilchen - zu erforschen.
G. Dissertori: Die Experimente werden im Large Hadron Collider (LHC) Beschleuniger des CERN durchgeführt. Der LHC ist ein gigantischer, ringförmiger Teilchenbeschleuniger mit 27 Kilometer Umfang, der sich in etwa 100 Metern Tiefe im Grenzgebiet der Schweiz und Frankreichs nahe Genf befindet.
MS: Wie funktioniert ein typisches Experiment am CERN?
G. Dissertori: Man lässt Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen. Bei diesen Kollisionen entstehen tausende von Teilchen, die weggeschleudert werden. Detektoren zeichnen wie eine gigantische Digitalkamera die Flugbahn der Teilchen auf, um daraus die Flugbahn zu rekonstruieren. Das Experiment muss 40 Millionen Bilder pro Sekunde aufzeichnen und in Bruchteilen von Sekunden entscheiden, ob das registrierte Bild von genügendem Interesse ist, um permanent gespeichert zu werden. Dies führt schließlich zu ca. 1.000 Bildern pro Sekunde, welche aufgezeichnet, rekonstruiert und analysiert werden, unter Verwendung eines weltweit vernetzten Computersystems.