Umfriedeter Raum
Gräber- und Begräbniskultur im geschichtlichen Rahmen
Im Herbst 2014 von Waltraud Holzner
Die Ausgangsbedeutung des Wortes Friedhof geht auf das althochdeutsche „frithof“ zurück, was die Bezeichnung für einen eingefriedeten, also umgrenzten Platz ist. Mit der Zeit vollzog sich der Bedeutungswandel zu einem „Hof des Friedens“. Tatsächlich gibt es kaum einen Friedhof, der nicht von einer Mauer oder wenigstens von einem Zaun umschlossen wird. Das Asylrecht, das im Innenraum einer Kirche bestand, erstreckte sich auch auf den Kirchhof. Umgrenzt wird etwas, das geschont und behütet, etwas, dem Ruhe, Respekt und Frieden garantiert werden soll. Mehr als jeder andere Ort werden Areale, wo Verstorbene ruhen, nicht nur als Gedenkstätten, sondern auch als erhabene Bezirke empfunden, ja, in vielen Religionen, so auch in der christlichen, als sakrale Orte. Deshalb sind Friedhöfe mit Tabus und moralischen Geboten behaftet, deren Beachtung von der Gesellschaft eingefordert wird. Die Verletzung der geltenden Regeln – zum Beispiel Störung der Totenruhe, Leichen- oder Grabschändung, Grabraub, Verschmutzung – wird als Entweihung empfunden und kann sogar gesetzlich geahndet werden.
Gräber sind die ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur. Sobald die Menschen sesshaft wurden, also schon zu Beginn der Jungsteinzeit, bestatteten sie ihre Verstorbenen auf separaten Begräbnisplätzen und die monumentale Ausstattung vieler Gräber lässt auf tiefsinnige kultische Handlungen und Riten schließen. Im Zuge der Christianisierung wurden die auf germanisch-keltischer Tradition beruhenden Gräber-und Urnenfelder als heidnisch abgelehnt.
Im Mittelalter setzte sich allmählich der Brauch durch, die Toten im Kirchenbereich „ad sanctos“ – also bei den Heiligen zu bestatten. Zwar war es 563 im Konzil von Braga per Gesetz verboten worden, Verstorbene innerhalb der Kirche zu bestatten, aber ab dem 9. Jh. konnte dieses Gesetz mittels angemessener Beträge, den sogenannten „Bestattungspfründen“, umgangen werden Die Nähe des Tabernakels und die Fürsprache der Heiligen, deren Reliquien in den Kirchen aufbewahrt wurden, sollten bei der Erlangung der himmlischen Seligkeit hilfreich sein. Ein Grab innerhalb der Kirche war daher privilegierten Menschen von Rang und Namen vorbehalten, z. B. Bischöfen, Adeligen, Stiftern. Auch wer sich ein Plätzchen im Mauerwerk der Kirche reservierte, vermeinte sich damit himmlische Protektion zu sichern. Jeder Christ strebte danach, in geweihter, umfriedeter Erde zu ruhen, da er seine Seele an solchem Ort vor dem Zugriff des Teufels sicher wähnte. Es war aber bis vor gar nicht allzu langer Zeit keine Selbstverständlichkeit, auf dem Friedhof ruhen zu dürfen. Neugeborene und Kinder, die starben, ehe man sie taufen konnte, hatten kein Anrecht auf die geweihte Erde des Kirchhofes. In manchen Gegenden begrub man sie unter der Regenrinne von Kirchen und Kapellen, da man hoffte, das über die Dächer eines geweihten Gebäudes geronnene Wasser könne sie posthum taufen. Menschen, die durch Suizid ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten, Geächtete, Hingerichtete, Ketzer wurden am „Schindanger“ verscharrt. Ein Esels- oder Hundsbegräbnis nannte man das. Mancherorts wurde sogar dem fahrenden Volk ein Begräbnis innerhalb der Kirchhofmauern verweigert. Alte Leute in Tramin können sich noch an die „Galgenwies“ erinnern, ein brachliegendes Stück Land an der Gemeindegrenze zu Kaltern, das nicht nur der Hinrichtung, sondern auch der Beerdigung der Geächteten diente. Wer zu dem Platz kam, bekreuzigte sich eingedenk der schaurigen Bedeutung dieses Ortes. Heute ist dieses Fleckchen Erde kultiviert und wird nicht mehr als Galgenwies bezeichnet.
Vergangenheit und Zukunft sind im Heute verborgen. Das Gewesene trug Gegenwart und Zukunft in sich, die Zukunft wird alles Zurückliegende beinhalten. So sind Gräber wohl die Endstation für körperliche Aktivitäten, aber der Einfluss derer, deren Gebeine oder Asche nun darin ruhen, ist weiterhin spürbar. Ihr Nachlass besteht nicht nur aus testamentarischem oder genetischem Erbgut. Die Macht der physisch Toten ist manchmal sogar größer als die der Lebenden. Während das Leibliche dem Verfall preisgegeben ist, wirken geistige Energien weiter fort. Sie können auf geheimnisvolle Weise Handlungen und Entscheidungen beeinflussen und sich sogar unverscheuchbar in irdischen Gefilden einnisten, zum Wohle oder Wehe derer, die noch darin leben. Es fällt uns schwer, die, die wir liebten, loszulassen und jene, an die wir uns mit zwiespältigen oder gar negativen Gefühlen erinnern, lassen uns nicht los.
Es gibt zahllose Berichte über Verstorbene, die sich auf irgendeine Weise bemerkbar gemacht hätten. Solche Kontaktaufnahmen aus dem Jenseits werden im Allgemeinen als schaurig und furchterregend empfunden. Die Seelen der Verstorbenen sollten sich, bei aller Zuneigung und Trauer, doch lieber nicht mehr bei ihren Angehörigen umtun, sondern sich einen ihrem Zustand angemessenen Platz für ihr jenseitiges Treiben aussuchen. So wurde in vielen Gegenden des Alpenraumes der Sarg beim Hinaustragen aus dem Haus und bei Wegkreuzen niedergestellt, um Ablassgebete zu sprechen. Bei dieser Totenrast sollte der Geist des Toten verwirrt werden, indem man die Bahre dreimal in verschiedene Richtungen anhob oder die Pferde dreimal anziehen ließ, ehe man den Begräbnisplatz erreichte. Friedhöfe galten seit jeher als unheimliche Orte, wo die Seelen der Toten als Geister oder Gespenster wiederkehren, um alte Rechnungen zu begleichen oder um durch Gebet und Schuldvergebung der Lebenden Erlösung und Frieden zu finden. Solche makabren Visionen werden wohl durch Gewissenspein, Angst und Schuldgefühle ausgelöst und wurden schon seit dem 14. Jh. von Malern, Bildhauern, Dichtern und Komponisten künstlerisch umgesetzt, zum Beispiel im Thema „Totentanz“, das sich auf die Macht des Todes über den Menschen bezieht.
Der Friedhof ist ein Ort, der uns rein äußerlich leiser werden lässt, der aber unweigerlich Erinnerungen in uns wachruft und damit starke Emotionen auslöst: Liebe, Sehnsucht, Schmerz, Wehmut, Reue, Verzweiflung, Wut, Hass – und die ohnmächtige Gewissheit der irdischen Endgültigkeit. Kein Wunder, dass die Verbindung zur jenseitigen Sphäre von manch einem gesucht oder aber gefürchtet wird. Dieses nicht-loslassen-Können gibt es, wenn die Liebe so groß und der Schmerz so tief ist, dass die Trennung nicht akzeptiert wird.
Während es bei antiken inner- und außereuropäischen Kulturen üblich war, Tote mit Grabbeigaben zu bestatten, verschwand bei den christianisierten Völkern schon ab dem 5. Jahrhundert dieser Brauch. Man war sich nun gewiss, im Jenseits keinen Bedarf mehr an irdischen Gütern zu haben. Tatsächlich sollten in alter Zeit die Grabbeigaben dem Verstorbenen im Jenseits gute Dienste leisten. Heute werden angeblich den Toten wieder Objekte in den Sarg mitgegeben oder auf das Grab gelegt. Nicht, weil man glaubt, der Verstorbene könne sie verwenden, sondern aus dem kindlichen Bedürfnis, dem Verstorbenen einen Liebesbeweis zu schenken, in der Hoffnung, er könne sich aus jenseitigen Gefilden darüber freuen. So sind die Bärchen und Puppen auf Kindergräbern und die Christbäumchen auf so manchem Erdhügel rührende Zeugnisse dafür, dass die geliebten Verstorbenen nicht nur in jenseitigen Sphären angenommen werden, sondern auch in den Herzen ihrer Angehörigen weiterleben.
Es gibt natürlich von Land zu Land verschiedene Bräuche und Gepflogenheiten, die mit Sterben, Beerdigung und Grabkultur verbunden sind. Wenn wir uns umschauen, beherrschen die Grabsteine und die Grabkreuze das Bild auf unseren Friedhöfen. Das Kreuz ist das Zeichen unseres Glaubens. Wir vertrauen auf den, der uns erlöst hat und uns Auferstehung und ewiges Leben verheißen hat.
Auf Steinen und Kreuzen ist schriftlich meist nur festgehalten, wer hier begraben ist, das Geburts- und Sterbedatum, manchmal ein Vulgo-Name oder die Berufsbezeichnung. Die Nachwelt erfährt also wenig über den Toten. Oft sind Sprüche am Grab zu finden, diese geben über die Empfindungen der Hinterbliebenen oder über deren Gedenken an den Verstorbenen Auskunft. In Kramsach in Tirol gibt es einen Museumsfriedhof, der davon kündet, dass im alpenländischen Raum in früheren Zeiten der Tod recht pragmatisch als unabwendbare Selbstverständlichkeit hingenommen wurde. Frisch-fröhlich und ungeschönt hielt man die Erinnerungen an die mehr oder weniger guten Taten eines Verstorbenen in markigen Sprüchen fest, die an wunderschönen schmiedeeisernen Kreuzen angebracht wurden:
Der Stein versinnbildlicht die lange Dauer der Zeit, in welcher der oder die Verstorbene unvergessen bleiben soll. Eine Wunschvorstellung, die nachdenklich macht. Es ist wohl berührend, wenn wir an alten oder sogar ausrangierten Grabsteinen Namen von Menschen finden, deren Leben wie unseres von Höhen und Tiefen geprägt war, Menschen, die vielleicht schwere Arbeit geleistet oder viel Gutes bewirkt haben und dennoch allmählich aus dem Gedächtnis ihrer Nachfahren verschwunden sind. Die Friedhofsordnungen in großen Städten begünstigen mittlerweile dieses Vergessen, indem sie aus Platzbedarf für neue Beerdigungen die Auflassung von Grabstätten nach 15 bis 20 Jahren vorschreiben. Privilegierte können aber nach wie vor dafür sorgen, dass ihr Verfall in angenehmer, ungestörter Weise in sündteuren Grüften ohne Ablaufdatum stattfindet. Die Reichen und Mächtigen waren zu allen Zeiten bestrebt, dass ihrem Rang und Namen hier auf Erden womöglich bis zum Jüngsten Tag Bewunderung gezollt wird. So eine Pyramide oder eine eigene Krypta macht schon was her ...