Die 1968er
Es war einiges los in der Kurstadt
Im Frühling 2019 von Eva Pföstl
Kürzlich erschien im Raetia-Verlag das Buch von Birgit Eschgfäller „1968. Südtirol in Bewegung“. Die junge Autorin, die seit 2011 am Sozialwissenschaftlichen Gymnasium Meran unterrichtet, hat im Buch ein Stück jüngere Zeitgeschichte eingefangen. Weltweit war 1968 ein Jahr des Aufruhrs – auch in Südtirol. Das Aufbegehren der damaligen Jugend hat die Gesellschaft verändert. Es entstanden Alternativen zu den etablierten Parteien und erste sprachgruppenübergreifende Initiativen. Die Kultur- und Medienlandschaft wurde bunter. Vieles, was heute als selbstverständlich gilt, wurde von den 68ern erkämpft. „1968 – Südtirol in Bewegung“ beleuchtet erstmals eine Facette Südtirols, die bislang kaum Einzug in die Geschichtsbücher gefunden hat.
Meraner Stadtanzeiger (MS): 68 hat es in Südtirol nicht gegeben – wenn man der bisherigen Geschichtserzählung glaubt. Stimmt das?
Birgit Eschgfäller: In der Geschichte Südtirols stehen in dieser Zeit die großen Linien der Politik, die Prozesse im Ringen um die Autonomie auf der einen und die Sprengstoffanschläge auf der anderen Seite, im Vordergrund. Man war in einem teilweise schmerzhaften Selbstfindungsprozess gefangen. So scheint es zumindest, wenn man die einschlägigen Geschichtsbücher liest. Das entspricht aber nicht der Wahrheit, zum kompletten Bild gehören auch die 68er.
Wer sich für die Geschichte unserer Heimat interessiert, der muss diese Facette kennenlernen – sie macht unsere Wurzeln lebendiger und vielfältiger. Schlussendlich können aktuelle Entwicklungen nur durch die Gesamtschau auf die Vergangenheit verstanden werden.
MS: Dieser schwarze Fleck hat Sie dazu bewogen, ein Buch über 1968 zu schreiben?
Birgit Eschgfäller: Das war sicherlich der wissenschaftliche Zugang. Was mich aber auch fasziniert hat, war das gestalterische und aktive Element der Bewegung. Das Interesse an Non-Konformismus und gesellschaftlicher Rebellion ist sicherlich in meiner eigenen Biografie begründet.
68 ist keine Geschichte von großen Männern, politischen Dokumenten oder strategischen Verhandlungen an den bedeutenden Tischen der Welt, sondern eine Geschichte, die zeigt, dass das Politische viel privater ist, als uns oft bewusst ist. Jede und jeder kann Politik machen und damit die Gesellschaft verändern. Jede Entscheidung, die wir treffen, hat Auswirkungen, sei es unser Kaufverhalten, unser Umgang mit anderen, unser Lebensstil oder eben auch unser Wahlverhalten.
Also habe ich mich auf die Spurensuche gemacht und so ist 2010 meine Diplomarbeit entstanden. Zum 50-jährigen Jubiläum – wenn man das so nennen will – ist schließlich der Verlag Raetia an mich herangetreten und durch das Einarbeiten aktueller Forschungsliteratur, von Fotomaterial und von zahlreichen Interviews ist das Buch „Südtirol in Bewegung“ entstanden.
MS: Rückblickend auf 1968. Womit haben wir es eigentlich genau zu tun?
Birgit Eschgfäller: Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn die Zeit als solche lässt sich nicht so leicht etikettieren. 1968 war eine globale, soziale und politische Bewegung, eine kulturelle Revolution, eine Jugendrevolte, eine gesellschaftliche Erneuerungsbewegung, die am bisherigen Welt- und Selbstverständnis gerüttelt hat, das Individuum und seine psychische Entwicklung in den Mittelpunkt setzte und starre Strukturen und Ordnungssysteme in Frage stellte.
Die 68er haben die Theorie von Karl Marx neu interpretiert und forderten vor allem die Aufhebung der Entfremdung; der Entfremdung vom eigenen Tun durch den Kapitalismus, von der Politik durch die Eliten, vom eigenen Körper durch die strenge Sexualmoral und auch von sich selbst durch die autoritäre Erziehung. Von alldem wollten sie sich befreien und das, indem sie selbst aktiv wurden – und zwar möglichst kreativ. Durch das Brechen äußerer „Polizisten“ sollte man sich von den inneren befreien. Neue Aktionsformen entstanden, die bis nach Südtirol kamen. Sit-Ins, Go-ins, Performances, Happenings – 68 hatte die Befreiung des Subjekts in und durch Aktion Hochkonjunktur.
Vereint waren alle im Glauben an die Idee der permanenten Veränderung, schön zu erkennen an einer Pariser Wandparole „Lauf schneller Genosse, die alte Welt ist hinter dir her“ und der Forderung nach Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbsttätigkeit. Der Politikbegriff wurde auf alle Lebensbereiche ausgedehnt und politisches Engagement wurde so zum persönlichen Engagement.