Meine Augen sehen Frühlingsduft
Im Frühling 2012 von Verena Maria Hesse
Ich war gestern am Tappeinerweg und sie ist da.
Sie ist diese Zeit, in der man Spaghettiträgerleibchen sieht und Pelzmäntel, gefütterte Overknie-Stiefel und hauchdünne Ballerinas, Schweißflecken an den Achselhöhlen und Wollmützen auf den dampfenden Häuptern.
Sie ist da, diese Zeit der Gegensätze, diese Übergangsphase, in der alles erlaubt ist, dieser Frühling, der im Geiste und am Thermometer heranreift, von den meisten aber nicht praktisch umgesetzt werden kann - rein kleidungstechnisch meine ich.
Am Tappeinerweg saß auf einer Bank ein Mann ohne Socken und Schuhe, der seine bereits braun gebrannten Gliedmaßen in die Sonne hielt. Er erweckte das Gefühl von Hochsommer, ich meine, wenn ich so was sehe, dann frag ich mich berechtigterweise, wie denn der richtige Sommer dann aussieht? Sitzt der Typ dann nackt auf der Bank oder nimmt er sich ein aufblasbares Planschbecken mit, damit er sich kurz erfrischen kann, wenn’s gar nicht mehr anders geht?
Auf einer anderen Bank saß eine ältere Frau mit einem Wollmantel, Winterschuhen und einem Hündchen mit Steppjäckchen und las ein Buch. Bei der frage ich mich, wie sie sich kleidet, wenn’s richtig kalt ist, ob sie dann noch eine Decke mitnimmt oder einen Heizstrahler?
Eine Joggerin überholte mich im bauchfreien Top mit Hotpants und schien damit noch ins Schwitzen zu kommen - einmal abgesehen von dem ihr begegnenden Herrn, der seinen Blick zum Leidwesen seiner in die Jahre gekommenen und sichtlich vom Winterspeck gezeichneten Gattin nicht von ihr lassen konnte.