Musik hat eine existenzielle und sakrale Dimension
Im Sommer 2020 von Eva Pföstl
Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, heißt es. Ein gutes Beispiel dafür ist Andreas Cappello, künstlerischer Leiter des südtirol festival - merano.meran. Er hat seinen Kopf in künstlerischen Fragen stets unbeirrt und erfolgreich durchgesetzt und auch heuer- trotz widriger Corona-Umstände - für die 35. Auflage des Meraner Festivals ein hochkarätiges Programm auf die Beine gestellt.
Das Südtirol Festival Meran will ab Mitte August ein Zeichen setzen. Und das nicht nur trotz Corona, sondern auch und gerade wegen Corona. Als eines der wenigen großen Musikfestivals in Europa war das Südtirol Festival wegen der Corona-Pandemie nicht von Anbeginn abgesagt worden und startet ab Mitte August die Konzertsaison. Aus künstlerischer Sicht hat es dabei keine Einschränkungen gegeben, beinahe so, als hätte es Corona und den Lockdown nicht gegeben: Andreas Cappello hat Erstaunliches zuwege gebracht und Musikbegeisterte können sich, trotz Corona-Bestimmungen, auf ein hochkarätiges Programm freuen.
Meran ist eben ein ganz besonderes Pflaster. Das hatte kein Geringerer als Sir Simon Rattle schon vor einem Jahr betont. Seine Musiker hätten ausdrücklich erwähnt, wie sehr sie den Auftritt im Kurhaus Meran genossen hätten. Und Rattle meinte, das sei der Beginn einer langen Freundschaft. Heuer wird Valery Gergiev, ein ebenso prominenter Stardirigent, gleich zweimal die Bühne des Kursaales betreten. Zum Eröffnungskonzert wird er das World Orchestra for Peace String Ensemble dirigieren. Die große Besetzung passt mit den Corona-Bestimmungen doch noch auf keine Bühne. Wir haben Andreas Cappello zu einem Gespräch getroffen.
MS: Herr Cappello, wie kann das Südtirol Festival Meran trotz strenger Corona-Regeln funktionieren?
Andreas Cappello: Die kleine Bühne im Kursaal hat 77 Quadratmeter, die Große 125. Ich brauche bei einem Mindestabstand von einem Meter pro Musiker eine Fläche von einem Quadratmeter. Da sind wir locker drinnen. Der Kursaal ist zu einem Zeitpunkt gebaut worden, als Epidemien noch viel präsenter waren als wir das in den letzten Jahrzehnten gewohnt waren. Wenn ich alle Türen öffne, die ins Freie gehen, kann ich den Saal in einer Viertelstunde perfekt durchlüften. Die Klimaanlage funktioniert zu 100 Prozent mit Frischluft. Sie verteilt daher keine Viren im Saal. Und es gibt 9 Zugänge, die von außen direkt in den Saal führen, ohne Korridore, ohne Stiegenhäuser. Wenn Sie die Konzertkarte kaufen, wird ihnen der entsprechende Eingang zugewiesen. So entsteht nirgendwo ein Stau. Wir haben in der Vergangenheit 1000 Personen durch den Haupteingang geschleust, jetzt können wir 450 Personen auf 9 Eingänge verteilen. Es wird also keinen Personenstau geben und die Mindestabstände können garantiert werden.
MS: Welche Probleme gilt es noch zu überwinden?
Andreas Cappello: Natürlich will man in erster Linie eine maximale Sicherheit gewährleisten und in zweiter Linie einen angenehmen Musikgenuss ermöglichen. Obwohl man gemäß aktueller Bestimmungen mit einer Mundschutzmaske alle Stühle besetzen könnte, werden wir einen Mindestabstand von 1 Meter einhalten. In diesem Fall kann der Konzertbesucher dann selbst entscheiden, ob er die Mundschutzmaske verwenden will oder ob er darauf verzichten möchte. Im Konzert finden ja keine Gespräche statt und jeder Besucher bleibt auf seinem Sitzplatz. Ich bin deshalb der Meinung, dass viele Alltagssituationen problematischer sind als der Besuch eines Konzertes, wo der Ablauf ja streng geordnet ist. Um unkontrollierte Situationen zu vermeiden, werden wir auf die Konzertpause und die Verabreichung von Speisen und Getränken verzichten.
MS: Die Zuhörer sollen also möglichst kontaktlos das Konzert besuchen. Fehlt da nicht etwas ganz Entscheidendes: nämlich das Gespräch über das Erlebte?
Andreas Cappello: Da haben Sie sicher recht. Das Konzert ist ein Gemeinschaftserlebnis. Gerade in Zeiten des Lockdowns hat man gesehen, dass Videokonzerte einen Konzertbesuch niemals ersetzen können. Primär geht es aber darum, dass der Künstler über das Medium Musik mit dem Publikum kommuniziert. Der Dialog und die Resonanz finden also primär zwischen dem Künstler und dem Konzertbesucher statt. Der anschließende Meinungsaustausch unter dem Publikum wird in diesem Jahr sicher nicht so spontan stattfinden können, wie wir das bisher gewohnt waren, aber das ist nicht der ausschlaggebende Grund für einen Konzertbesuch.
MS: In den Konzertpausen gilt auch bei den Meraner Festspielen Sehen und Gesehen-werden. Verändert das Fehlen dieser Publikumsbühne den Charakter des Festivals?
Andreas Cappello: Wir leben jetzt in einer vollkommen neuen Situation und müssen im Sinne der Vorsicht auf bestimmte Freiheiten verzichten. Das kann aber auch eine Chance sein, um bestimmte Gewohnheiten zu hinterfragen. Der Charakter des Festivals wird in diesem Jahr sicher in vielerlei Hinsicht ein anderer sein. Ein voller Saal vermittelt immer ein Gefühl der Freude und Aufregung. In diesem Jahr werden wir Konzerte mit Beinfreiheit genießen. Auch das kann ein qualitativer Gewinn sein.
MS: Über 200 Festivals klassischer Musik gibt es in Deutschland und mindestens ebenso viele in Italien. Die meisten von ihnen mussten zu Beginn der Coronakrise abgesagt werden. Mittlerweile gibt es aber wieder viel Aktionismus. Wie sind die ersten Erfahrungen?
Andreas Cappello: Tatsächlich wurden nahezu alle großen Sommer-Festivals abgesagt: Verbier, Luzern, Gstaad, Schleswig-Holstein, Rheingau, sogar das Beethovenfest Bonn hat trotz des 250. Geburtsjahres von Beethoven alle Konzerte auf 2021 verschoben.
In den letzten Wochen haben aber viele wieder ein Lebenszeichen gegeben und nach unterschiedlichen Lösungen gesucht. In Luzern gibt es nun 9 Konzerttage und Schleswig-Holstein macht Streaming-Konzerte. Auch in Italien hat man neue Programme vor allem mit italienischen Künstlern konzipiert. Einige wenige Festivals haben aber auch ein durchaus hochwertiges und internationales Programm wie etwa Ravenna und Ravello.
MS: Gelingt nach der Corona-bedingten „Vollbremsung“ der Neustart? Welche Impulse braucht es, um zukunftsfähig zu bleiben?
Andreas Cappello: Die Zukunft steht in den Sternen. Die Befürchtung einer zweiten Welle ist groß und der notwendige Impfstoff ist noch ungewiss. Ich denke, dass wir das kommende Jahr sehr vorsichtig und mit maximaler Flexibilität angehen werden. Die Kunst lebt vom internationalen Austausch. Globales Denken und intellektuelle Offenheit stehen ja irgendwie im Widerspruch zur Schließung der Grenzen. Aber Not macht erfinderisch und so bin ich zuversichtlich, dass wir uns den jeweiligen Gegebenheiten anpassen werden. Musik hat eine existenzielle und sakrale Dimension. Solange es Menschen gibt, wird die Musik nicht sterben.