Wie die Katze die Milch leckt
Interview mit Dr. Ing. Roman Stocker
Im Herbst 2013 von Helmuth Tschigg
Sein Großvater war der Tiroler Schuster unter den Meraner Lauben, sein Vater war maßgeblich am Jahrhundertprojekt zur Rettung Venedigs vor den Sturmfluten beteiligt, seine Mutter war Sportlehrerin.
Meraner Stadtanzeiger: Ist Roman Stocker ein Meraner?
Roman Stocker: Geboren wurde ich am 2. Jänner 1975 in Wien. Dann lebten wir nur zwei Jahre hier in Südtirol. Wir kamen durch die Arbeit meines Vaters als Ingenieur bei Straßenbauten schon bald zuerst nach Nigeria und dann nach Jemen. Dort besuchte ich die erste Klasse der Volksschule in italienischer Sprache, zusammen mit acht anderen Kindern verschiedener Schulstufen. Alle fünf Volksschulklassen wurden vom selben Lehrer betreut. Die Schule war in einem Camp, mitten in der Wüste. Die Familie kehrte dann in die Provinz Venedig zurück, wo ich nach dem Klassischen Lyzeum das Studium zum Bauingenieur in Padua antrat. Nach dem Abschluss nach fünf Jahren blieb ich in Padua, um das Doktorat zu machen. Immer wieder sind wir nach Meran zurückgekehrt, um Opa und Oma unter den Lauben zu besuchen, und das Tollste war dann, mit Opa beim Schustern mitbasteln zu dürfen und mit Oma zu watten.
Stadtanzeiger: Welche Fachrichtung hatte Ihr Doktorat?
Roman Stocker: Umweltingenieurwesen, mehrheitlich auf Wasser und Strömungsmechanik bezogen, besonders auf Seen.
Stadtanzeiger: Auf welchen Seen?
Roman Stocker: Zuerst hier und dann zwei Jahre in Australien, am Center for Water Research der University of Western Australia, in Perth. Dieses Forschungszentrum hatte ein großes Studienprogramm für den See von Genezareth, bekannt aus der Bibel. Dort war ich zweimal einen Monat, um Erhebungen zu machen. Da misst man dann Temperaturen, Wellen, Zirkulation, Winde und Wasserqualität. Mein besonderer Auftrag war es zu erheben, wie sich die internen Wellen im See verhalten und auf die Wasserqualität auswirken. Das ist ein besonders wichtiger See, denn rund 40 % des Trinkwassers Israels kommt von dort. Man will also besser verstehen, was passieren würde, wenn Verschmutzungen oder Veränderungen stattfänden. Und natürlich ist der See politisch gesehen sehr wichtig. Ich habe also über drei Jahre lang an meinem Doktorat über diesen See gearbeitet, zum Teil mathematisch modelliert und teilweise mit Messungen im See.
Stadtanzeiger: Und zwischendurch waren Sie wieder in Australien?
Roman Stocker: Die zwei Jahre dort zählen zu den interessantesten, die ich erlebt habe, sei es wegen des Landes, der Landschaft und der Tiere, als auch wegen der Menschen. Ich war gemeinsam mit meiner späteren Frau Micaela dort. Ich hatte Micaela auf der Uni in Padua kennengelernt. Wir haben in Australien viele Freunde gefunden und sind öfter wieder dort gewesen. In Kürze fahren wir wieder für fünf Monate hin.
Stadtanzeiger: In Australien haben Sie auch Ihr Hobby, das Tauchen, genossen.
Roman Stocker: Ich tauche schon seit Langem. Mit 12 Jahren und einem Tag haben mich die Eltern mitgenommen, vorher war es ja nicht erlaubt. Inzwischen habe ich 150 Tauchgänge an verschiedenen Plätzen der Welt gemacht, u.a. auf den Galapagos Inseln und in Australien, wo das Great Barrier Reef liegt, aber auch in anderen Paradiesen, wie dem Ningaloo Reef, das noch schöner und weniger bekannt ist. Aus dem Tauchen kommt in großem Maße auch mein wissenschaftliches Interesse für den Ozean.
Stadtanzeiger: Wie kam es zum nächsten Schritt nach dem Abschluss des Doktorates?
Roman Stocker: Ich bewarb mich am MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston in den Vereinigten Staaten. Am Anfang als Instruktor in angewandter Mathematik, aber immer im Bereich der Strömungsmechanik. Diese Stelle gab mir die Freiheit, meine Forschungsrichtung bedeutsam zu ändern: Mein Blick fokussierte sich auf die Mikrowelt – weg von den Seen und hin „zur See“ – und ich brachte eine neue Komponente, die Biologie, hinein, spezifisch auf den Ozean. Alles neue Dinge, die im Ingenieurwesen überhaupt nicht studiert werden. Aber so legte ich diese neuen Wissensgebiete mit bestehendem Wissen über Strömungsmechanik und den Ozean zusammen und schuf am Institut eine neue Forschungsrichtung.
Stadtanzeiger: Stichwort Strömungsmechanik: Wenn Sie von einem Tsunami hören, verstehen Sie dann besser, was dabei abläuft?
Roman Stocker: Ja, ich weiß, was allgemein dabei passiert – es ist ein relativ einfaches Prinzip der Strömungsmechanik. Aber mein Fachgebiet liegt ganz auf der anderen Seite der Kette, wir schauen auf die ganz, ganz kleinen Sachen. Der Tsunami wirkt sich auf Tausende Kilometer aus, wir schauen auf tausendstel Millimeter und was sich dort tut. Bakterien, Plankton und Mikroorganismen, die man nur mit starken Mikroskopen sieht, sind unsere Forschungsobjekte. Diese Organismen besetzen den Ozean in gewaltigen Mengen: Zum Beispiel gibt es im Ozean insgesamt mehr als hundert Milliarden von Milliarden von Milliarden Bakterien. Die Masse dieser unsichtbaren Kleinstlebewesen ist viel, viel größer als die Masse der sichtbaren Meeresbewohner. Sie beeinflussen alles. Die Kleinsten mit einem Trillionstel Gramm Gewicht schaffen durch Fotosynthese die Voraussetzung für den Beginn der Entwicklung und der Nahrungskette. Es gäbe alle Größeren – und darunter all die Fische – nicht!! Das heißt auch, dass die wichtigsten Prozesse im Ozean – zum Beispiel der Kohlenstoffkreislauf, der einen bedeutenden Einfluss auf unser Klima und die Klimaerwärmung hat – wesentlich von diesen Mikroorganismen gesteuert werden. Wir wollen genau verstehen, wie diese Organismen den Ozean beeinflussen und was in der Zukunft passieren könnte, z.B. im Falle eine Klimawandlung.
Stadtanzeiger: Wer finanziert solche Projekte?
Roman Stocker: Eine Menge Leute. In Amerika hat die National Science Foundation ein ziemlich großes Programm. Dann verschiedene Stiftungen und Private. Diese zahlen auch gutes Geld.
Stadtanzeiger: Stehen diese Forschungen mit anderen Staaten in Verbindung?
Roman Stocker: Ja, wir halten viele Beziehungen zu Europa, u.a. Italien, Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich, Spanien, und dann auch mit Australien, Israel und Japan. Mit Südtirol noch nicht, aber wer weiß!
Stadtanzeiger: Wie groß ist Ihre Arbeitsgruppe?
Roman Stocker: Ich leite am MIT eine Gruppe mit etwa 25 Forschern und Doktoratstudenten, zum Teil Ingenieure, zum Teil Physiker, und zum Teil Biologen. Diese Mischung macht Spaß, weil man immer etwas Neues dazulernt. Vor allem macht es Spaß, mit jungen Leuten zu arbeiten, die so fähig und motiviert sind. Man kann dabei im Team viel erreichen!
Stadtanzeiger: Welches Budget steht da jährlich zur Verfügung und wie wird es weitergehen?
Roman Stocker: Mir stehen zurzeit ungefähr zwei Mio. Dollar pro Jahr zu Verfügung, die ich mir allerdings alleine durch Forschungsanträge verschaffen muss. Wir haben mit dieser Forschungsrichtung vor sieben Jahren begonnen. Das Besondere daran ist, dass ein Ingenieur auf die Biologie schaut. Das geschieht nicht oft. Wir versuchen, sehr quantitative Methoden anzuwenden, wie es eben ein Ingenieur macht, aber jetzt in einem nicht traditionellen Gebiet: Mikroskopie, Bildanalyse, Mikrofluidik, mathematische Modellierung. Damit versucht man, ein Bild zu bekommen, wie sich die Kleinstlebewesen verhalten, bewegen und auf den Ozean einwirken. Dass man sie nicht mit freiem Auge sieht, heißt überhaupt nicht, dass sie nicht wichtig sind – das Gegenteil ist der Fall – aber man muss spezifische Technologien anwenden und erfinden, um diese Mikrowelt der Forschung zu eröffnen.
Stadtanzeiger: Werden Eure Forschungsergebnisse auch anderen zur Verfügung gestellt?
Roman Stocker: Ja, diese Ergebnisse sind alle öffentlich und insbesondere versuchen wir immer, sie in den besten Fachzeitschriften – von „Science“ bis „Nature“ – zu veröffentlichen. Die Veröffentlichung in diesen Medien entspricht einer hohen Anerkennung unserer Forschung. Wir haben Glück, dass unsere Themen sehr aktuell sind und die Koppelung der Meeresbiologie mit Mikrotechnologie und Ingenieurwesen gut ankommt und als wesentlich neu anerkannt ist. Wir halten Vorträge und gehen zu Konferenzen und wissenschaftlichen Treffen, wo man immer neue Kontakte herstellt. Vorige Woche war ich in Israel am Roten Meer, wo die Korallen das Thema waren, davor in Stresa am Lago Maggiore, wo die Seen das Thema waren, nächste Woche werde ich in Singapur sein und darauf in Queensland und dann in Sydney.
Stadtanzeiger: Sind das meistens Länder mit Verbindung zum Meer?
Roman Stocker: Ja, in diesen Fall schon! Aber auch Österreich ist interessiert am Leben im Ozean und natürlich an jenem in den Seen, und man könnte bestimmt auch in Südtirol über Seen ganz toll forschen. Die Wasserqualität von Seen ist genauso durch Mikroorganismen beeinflusst. Ob der See schmutzig oder sauber aussieht, das hängt in großem Maß von diesen ab. Und zu wissen, wie sie sich verhalten, das ist unser Ziel. Je nach Ergebnis müssen dann die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.