Gehörlos ist nicht sprachlos
Im Herbst 2018 von Eva Pföstl
Früher nannte man sie die Taubstummen. Heute wird diese Bezeichnung als veraltet und abwertend empfunden. Sie sind gehörlos, aber nicht sprachlos, sie sind taub, aber nicht stumm, denn viele Gehörlose benutzen sowohl die Gebärdensprache als auch die Lautsprache zum Lesen, Schreiben und Lippenabschauen.
Veronika Wellenzohn-Kiebacher ist eine von 300 gehörlosen Menschen in Südtirol. Sie lebt in Meran und kämpft seit Jahren zusammen mit anderen gehörlosen und hörenden Menschen um Barrierenabbau in der Kommunikation und um die Anerkennung ihrer Gebärdensprache.
Weltweit gibt es 177 bisher bereits erforschte Gebärdensprachen
Ich traf mich im Sommer mit Veronika (52) und ihrer Kommunikationsassistentin Magdalena Spitaler (27), die ehrenamtlich tätig ist. Das lautlose Gebärdenspiel zwischen Veronika und Magdalena ist ungewohnt faszinierend und hat wenig mit der eher willkürlichen Gestik und Mimik einer Pantomime zu tun, die sich dem Betrachter meist situativ erklärt. „Bei der Gebärdensprache der Gehörlosen handelt es sich vielmehr um eine visuelle Sprache, ein ausgeklügeltes System aus Zeichen und Gesichtsausdrücken. Diese Sprache fließend und gut zu erlernen, dauert gleich lange wie bei jeder anderen Sprache auch“, erklärt Veronika. Was viele Hörende nicht wissen: Weltweit gibt es 177 bisher bereits erforschte Gebärdensprachen. Die Gebärdensprachen sind keine künstlich geschaffene, sondern natürlich gewachsene Sprachen. Sie sind sehr differenziert, neben den Handbewegungen spielen auch die Mimik, die Bewegungen von Augenbrauen und Lidern, die Kopf- und Oberkörperhaltung und die Mundgestik eine wichtige Rolle. Es gibt nicht nur eine einzige Gebärdensprache weltweit, wie oft irrtümlich angenommen, sondern jedes Land hat seine Gebärdensprache. Ja, es gibt sogar verschiedene Dialekte. „Die Gebärdensprache ist kein primitiver Behelf, wie viele glauben, sondern eine strukturierte, differenzierte, feinste intellektuelle wie emotionale Nuancen vermittelnde Ausdrucksform und der Lautsprache ebenbürtig, ja ihr in mancher Hinsicht sogar überlegen. Eine Sprache, die sich für Vorträge ebenso gut eignet wie für die Liebe.“ So steht es im Buch „Stumme Stimmen“ von Oliver Sacks, einem weltweit erfolgreichen Neurologen und Schriftsteller.
„Lippenabschauen kann zwar das Verständnis unterstützen, aber nicht sicherstellen“, erklärt Veronika. „Um Laute aufgrund des Mundbildes zu erkennen, muss das Gegenüber sehr deutlich und langsam Hochdeutsch und möglichst nicht im Dialekt sprechen. Zudem ist Lippenabschauen sehr ermüdend und nicht geeignet für längere und komplexe Gespräche.“
Es braucht viel Geduld
Veronika verlor mit einem Jahr aufgrund einer Erkrankung ihren Gehörsinn. „An das Hören kann ich mich nicht mehr erinnern“, erklärt sie. „Mit fünf Jahren kam ich in den Kindergarten in Mils bei Innsbruck, wo ich auch neun Jahre zur Schule ging. Hier lernte ich in der Schule die Lautsprache und im Heim die Gebärdensprache.“ Anschließend ging sie nach München, wo sie vier Jahre lang eine Berufsschule besuchte und eine Ausbildung als Lithographin machte. Die Großstadt war nie ein Problem. „In meiner jetzigen Heimatstadt Meran fühle ich mich wohl. Bürgermeister Paul Rösch und seine Stadtverwaltung, Sozialstadtrat Stefan Frötscher und Heinrich Tischler, Beauftragte der Stadt Meran für die Belange der Menschen mit Behinderung, haben ein Herz und ein offenes Ohr für uns taube Bürger. Davon zeugt der erste internationale Kongress der Gebärdensprachen im April in Meran“, betont Veronika.